Sonntag, 3. September 2017

Heute vor 90 Jahren – 3. September 1927: Erwin Piscator eröffnet seine Bühne am Nollendorfplatz

So eine Premiere wünscht sich kein Theaterintendant: Noch eine Stunde vor Beginn der Vorstellung waren nicht alle Requisiten fertig. Selbst in der ersten Pause mussten noch die letzten Szenen eingeleuchtet werden. Und dabei stand an diesem Abend doch so viel auf dem Spiel: Mit ”Hoppla, wir leben” von Ernst Toller nicht nur die Uraufführung eines Stückes, sondern auch Spielzeiteröffnung und die Einweihung eines neuen Theaters. Für Erwin Piscator, den 33-jährigen Intendanten, der bislang nie ein Haus geleitet hatte, war jener Abend des 3. September 1927 ein ganz entscheidender Moment.

Dieser Tag brachte ihm, der damals aus seiner kommunistischen Gesinnung keinen Hehl machte, den ersehnten Durchbruch: Der Abend endete gar damit, dass das Publikum und mit ihm die Akteure auf der Bühne die Internationale anstimmten. Am Tag danach schäumte zwar die konservative Presse, die von Tollers Revolutiondrama ”alles in den Dreck gezogen” und auch die Nationalhymne ”von Katzenmusik” verunglimpft sah. Aber der Theaterkritiker Alfred Kerr schrieb:

Zitat: 

”Ich will Propagandawerke heut! Die Welt ist für tendenzlose Kunst unreif. Zwölf Millionen Leichname, schwachsinnig zerfetzt, bewiesen es. Die Kunst mit einer bestimmten Lehre wird für die Zukunft, meine Teuren, sehr wichtig sein.”
mehr:
- 03.09.1927: Erwin Piscator eröffnet seine Bühne am Nollendorfplatz (Jürgen Heilig, SWR2Zeitwort, 03.09.2013, PDF)

Erwin Piscator {4:45}

Veröffentlicht am 24.05.2016
Silvio Martín
Projection Design

Nach der fristlosen Kündigung seines Vertrags durch die Volksbühne eröffnet Piscator mit Grundkapital von 400.000,- Mark seine erste eigene Bühne. Die finanziellen Mittel stellt der Gatte der Schauspielerin Tilla Durieux, der Brauerei-Magnat Ludwig Katzenellenbogen, zur Verfügung. Nachdem die Piscator-Bühne sich durch die zusätzliche Übernahme des Lessing-Theaters im März 1928 finanziell überhoben hat, muß Piscator aufgrund eines Konkursantrags der Steuerbehörde im Juni 1928 seine Konzession niederlegen. [Piscator-Bühne (Theater am Nollendorfplatz), Piscators Inszenierungen, erwin-piscator.de]
Gegen eine Schuldsumme von 50.000,- Mark wird Piscator 1929 dank finanzieller Unterstützung durch seinen Freund Felix Weil - Begründer des Frankfurter Instituts für Sozialforschung - und des Theaterunternehmers Ludwig Klopfer als Konzessionär die Eröffnung der zweiten Piscatorbühne möglich (Startkapital: 200.000,- Mark). Das hohe politische Reizpotential des Mehring-Stückes Der Kaufmann von Berlin sowohl nach Rechts ('Vaterlandsverrat') als auch Links ('Antisemitismus') führt zu breiten Protesten. Diese bringen neben den hohen Kosten und technischen Mängeln der komplizierten Inszenierung auch die Zweite Piscatorbühne zu Fall. Während Klopfer das Theater übernimmt, setzt Piscator seine Arbeit mit einem Schauspielerkollektiv fort. [Zweite Piscator-Bühne (Theater am Nollendorfplatz), Piscators Inszenierungen, erwin-piscator.de]
Im Juni 1929 nimmt die sowjetische Filmgesellschaft Meshrabpom Verhandlungen mit Piscator über ein Filmprojekt auf. Ein erster Kurzbesuch in Moskau findet im September 1930 statt; im April 1931 reist der mit einer Schuldsumme von nahezu 100.000 Mark hochbelastete Regisseur für mehrere Monate in die Sowjetunion (1931-36) und beginnt dort mit der Produktion des Spielfilms Der Aufstand der Fischer nach einer Novelle von Anna Seghers. Nach etlichen Verzögerungen erlebt der Film seine Premiere im Oktober 1934. Während seiner Jahre in Rußland entwickelt Piscator zahlreiche weitere, unrealisierte Projekte (deutschsprachiges Exilantentheater in Engels; weitere Filmdrehbücher 1935/36). 1934 wird er zum Präsidenten des wenige Jahre später aufgelösten Internationalen Revolutionären Theaterbundes (IRTB) ernannt. In Abwesenheit wird Piscator von den NS-Machthabern ausgebürgert und seine Berliner Wohnung konfisziert. [Piscators Inszenierungen, erwin-piscator.de] 
Ernst Toller "Hoppla, wir leben" {3:11}

Veröffentlicht am 20.06.2012
wordlover
Autorenrezitation: Ernst Toller (Aufnahme 1930)
Text:
Hoppla.wir leben (Auszug aus dem gleichnamigen Drama)
Karl Thomas:
Und nun will ich euch eine Geschichte erzählen. Kein Märchen.
Eine Geschichte, die passiert ist, bei der ich dabei war. Während des Krieges lag ich irgendwo in Frankreich im Schützengraben. Plötzlich, nachts, hörten wir Schreie, so, als wenn ein Mensch furchtbare Schmerzen leidet. Dann war's still. Wird wohl einer zu Tode getroffen sein, dachten wir. Nach einer Stunde vernahmen wir wieder Schreie, und nun hörte es nicht mehr auf. Die ganze Nacht schrie ein Mensch. Den ganzen Tag schrie ein Mensch. Immer klagender, immer hilfloser. Als es dunkel wurde, stiegen zwei Soldaten aus dem Graben und wollten den Menschen, der verwundet zwischen den Gräben lag, hereinholen. Kugeln knallten, und beide Soldaten wurden erschossen. Noch mal versuchten's zwei. Sie kehrten nicht wieder. Da kam der Befehl, es dürfe keiner mehr aus dem Graben. Wir mußten gehorchen. Aber der Mensch schrie weiter. Wir wußten nicht, war er Franzose, war er Deutscher, war er Engländer. Er schrie, wie ein Säugling schreit, nackt, ohne Worte. Vier Tage und vier Nächte schrie er. Für uns waren es vier Jahre. Wir stopften uns Papier in die Ohren. Es half nichts. Dann wurde es still. Ach, Kinder, vermöchte ich Phantasie in euer Herz zu pflanzen wie Korn in durchpflügte Erde. Könnt ihr euch vorstellen, was da geschah?
Fritz:
Doch.
Grete:
Der arme Mensch.
Karl Thomas:
Ja, Mädchen, der arme Mensch! Nicht: der Feind. Der Mensch. Der Mensch schrie. In Frankreich und in Deutschland und in Rußland und in Japan und in Amerika und in England. In solchen Stunden, in denen man, wie soll ich's sagen, hinabsteigt bis zum Grundwasser, fragt man sich: Warum das alles? Wofür das alles? Würdet ihr auch so fragen?
Fritz, Grete:
Ja.
Karl Thomas:
In allen Ländern grübelten die Menschen über die gleiche Frage. In allen Ländern gaben sich Menschen die gleiche Antwort. Für Gold, für Land, für Kohlen, für lauter tote Dinge, sterben, hungern, verzweifeln die Menschen, hieß die Antwort. Und dort und dort standen die Mutigsten des Volkes auf, riefen den Blinden zu ihr hartes Nein, wollten, daß dieser Krieg aufhörte und alle Kriege, kämpften für eine Welt, in der es alle Kinder gut hätten ... Bei uns verloren sie, wurden besiegt.
Bilder:Otto Dix
mehr Gedichte der „verbrannten" Dichter finden Sie unter: http://www.literatisch.de/
 

1931/32 Piscator reist in die Sowjetunion um mit den Dreharbeiten an dem Film "der aufstand der fischer von st. barbara" zu beginnen; die Dreharbeiten und die abschließenden Arbeiten an dem Film dauern bis 1936. Von sowjetischer Seite gibt es zahlreiche formal bestimmte Einwände gegen die Filmarbeit Piscators.
1933 30. Januar, Machtergreifung der Nationalsozialisten. Piscator kann nicht mehr nach Deutschland zurückkehren, da er als Kommunist auf den Fahndungslisten der Gestapo steht. Er bleibt als Emigrant in der Sowjetunion.
1936 Piscator reist im Auftrag des Internationalen Revolutionären Theaterbundes nach Paris; dort erhält er von Wilhelm Pieck aus Moskau den Hinweis über seine drohende Verhaftung für den Fall seiner Rückkehr in die Sowjetunion. Piscator bleibt in Paris. Auf der Suche nach Möglichkeiten wieder in deutscher Sprache inszenieren zu können, fährt er im Sommer zu den Salzburger Festspielen, um dort Max Reinhardt zu treffen. Bei einem Essen auf Schloß Leopoldskron in Salzburg lernt er die Tänzerin und Choreographin Maria Ley-Deutsch kennen. Maria Ley-Deutsch ist Witwe nach dem AEG-Erben Frank Deutsch und lebt seit Jahren in Frankreich. Sie hat ihre Laufbahn als Tänzerin vor Jahren beendet und danach Choreographien geschrieben, vor allem für Max Reinhardt u.a. für die Inszenierung "der sommernachtstraum", Salzburg 1927.
1937 Am 17. April heiraten Maria Ley-Deutsch und Erwin Piscator in Neuilly s/Seine; die Suche nach Arbeitsmöglichkeiten für Theater oder Film gehen weiter. Zahlreiche Reisen nach Spanien, Mexico, in die Schweiz. Die ersten Entwürfe gemeinsam mit Alfred Neumann für das Projekt "krieg und frieden" entstehen.
 [Erwin Piscator, Lebensdaten, Akademie der Künste

Nach der Emigration von Frankreich aus in die Vereinigten Staaten zum Jahreswechsel 1938/39 gründet er an der New Yorker New School for Social Research eine Theaterschule, den Dramatic Workshop. In den amerikanischen Jahren ist Piscator nachweislich an 36 Produktionen mit seinen Studenten als Regisseur oder Supervisor eng beteiligt. Am Dramatic Workshop werden zwischen 1940 und 1951 insgesamt weit über 200 szenische Lesungen bzw. Inszenierungen von Kurzfassungen oder kompletten Stücken durchgeführt.
[Dramatic Workshop, Piscators Inszenierungen, erwin-piscator.de]
In den späten Jahren als Gastregisseur in der Bundesrepublik ab 1951 arbeitet Piscator an fast dreißig verschiedenen Bühnen und ist gezwungen, seine erfolgreichen Inszenierungen an wechselnden Häusern zu wiederholen. Am häufigsten ist er bis 1962 in Essen, Tübingen und Mannheim tätig. Arthur Millers Hexenjagd und seine Adaption von Tolstois Krieg und Frieden inszeniert er zwischen 1954 und 1958 jeweils fünf Mal. [Gastregie in der Bundesrepublik, Piscators Inszenierungen, erwin-piscator.de]
Im Februar 1962 wird Piscator zum Intendanten der West-Berliner Freien Volksbühne berufen. Sein erklärtes Ziel: die Uraufführung gesellschaftskritischer Stücke zu lancieren. Tatsächlich wird das von Piscator uraufgeführte Hochhuth-Drama Der Stellvertreter von den Besucherzahlen her zu seiner zweit-erfolgreichsten Inszenierung. Innerhalb zweier Spielzeiten wird sie über 250 Mal gezeigt; Hochhuths Erstling wird in zahlreichen Ländern gespielt. [Freie Volksbühne Berlin (Theater am Kurfürstendamm, später Freie Volksbühne, Schaperstraße), Piscators Inszenierungen, erwin-piscator.de]

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