Montag, 9. September 2019

Roman Polanski in Zeiten des Gutmenschentums

Kommentar: Wieder mal steht Roman Polanski in den Schlagzeilen. Er ist der wahre Sieger bei den Filmfestspielen von Venedig - ein Sieg gegen den grassierenden Hypermoralismus
Die Leute, die ich anklage, kenne ich nicht, ich habe sie nie gesehen, ich hege weder Groll noch Hass gegen sie. Sie sind für mich nur Erscheinungen, Symptome der Krankheit der Gesellschaft. Und die Handlung, die ich hier vollziehe, ist nur ein radikales Mittel, um den Ausbruch der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu beschleunigen. Ich habe nur eine Leidenschaft, die des Lichtes, im Namen der Menschheit, die so viel gelitten hat und die ein Recht auf Glück besitzt. Mein flammender Protest ist nur der Schrei meiner Seele.
Emile Zola: "J'accuse!

Das war mehr als eine große Überraschung zum Abschluss der Filmfestspiele in Venedig: Der bislang nur Experten bekannte Amerikaner Todd Phillips gewann am Samstagabend für seinen Film "Joker" den Goldenen Löwen von Venedig.

Der wahre Sieger der diesjährigen Venedig-Ausgabe ist aber der französisch-polnische Regisseur Roman Polanski, der für seinen Film "J'Accuse!" den Spezialpreis der Jury bekam.

"J'Accuse!" erzählt von der Dreyfus-Affaire vor 125 Jahren, basierend auf Robert Harris' Roman "An Officer and Spy". Die Geschichte ist beschämend genug, wie sie ist. Polanski schildert nüchtern und klar die Fakten. Sein Film verzichtet auf alle billige Aktualisierung, auf Sensationalismus, auf boshafte Witze, die sich auf die Gegenwart beziehen.

Die gesellschaftlichen Schwächen einer Massendemokratie

Seine Herangehensweise ist im gewissen Sinn sehr klassisch. Der Film beginnt Anfang 1895 mit Alfred Dreyfus' öffentlicher Degradierung und Demütigung. Danach geht es hin und her zwischen dem Ablauf der Jahre 1895-1906 und Rückblicken in die Vorgeschichte, die im Herbst 1894 in die Vorwürfe gegen Dreyfus mündete.

Alles ist ein bisschen eine Detektivgeschichte, in der die Gewinnung von Indizien im Zentrum steht. Vor allem ist dies auch die Geschichte eines bisher unbekannten, geradezu geheimen Helden, des Colonel Marie-Georges Picard – ein Whistleblower der Jahrhundertwende.

Mit großer Lässigkeit zeigt Polanski die politischen und die gesellschaftlichen Schwächen einer Massendemokratie auf. Seine Erzählung der Dreyfus-Affaire zeigt, wie Meinungsfreiheit in Populismus, wie Populismus in Demagogie und Hetze umschlägt: Er zeigt Bücherverbrennungen, antisemitische Ausschreitungen und Verschwörungen einer rechtskonservativen, katholischen, militärischen Clique.

Dieser Film erinnert auch an den Kampf eines bestimmten Teils der politischen Linken, die heute ganz vergessen ist: Einer politischen Linken, die wirklich mit Radikalität gegen den existierenden Staat stand, auch wenn er formal eine Demokratie war, und die wirklich Widerstand geleistet hat gegen die Macht.

So erinnert Polanski daran, was wirkliche Opfer im politischen Kampf sind, was andere Leute riskiert haben: ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Ehre. Von solchen Positionen und von Menschen wie Emile Zola oder Georges Clemenceau ist unsere Gegenwart weit entfernt.

So ist dies eine zeitgemäße Geschichte: Über die Hexenjagden der Gegenwart, von denen Polanki selbst ein Lied singen kann; über den Antisemitismus unserer Zeit in Frankreich wie in Deutschland, über Überwachungswahnsinn, über Whistleblower.

mehr:
- In Zeiten der Hexenjagd (Rüdger Suchsland, Telepolis, 09.09.2019)

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