Donnerstag, 16. Januar 2020

Erschöpfung als Herrschaftsinstrument – Materialsammlung

Mit der folgenden Keynote eröffnete Jan Böttcher die Autor*innenwerkstatt »Gesellschaftliche Debatten und literarisches Schreiben«, die im Rahmen des 26. open mike im November 2018 stattfand.


Wir bemühen gerade in künstlerischen Zusammenhängen gern die Formel 1+1=2+x oder sogar 1+1=3; dass also die Summe mehr ist als die Einzelteile, so wie eine Band nicht aus vier Solist*innen besteht. Und nun darf man sich im (zumindest künstlerisch legitimen) Umkehrschluss fragen: Löst sich eine Band auf, bleiben dann vier Einsen zurück, oder erniedrigt sie die gemeinsame musikalisch-soziale Enttäuschung zu einem »weniger als 1«? Hält eine Gesellschaft aus 80 Millionen Menschen nicht mehr zusammen, wiegen ihre Einzelteile dann eventuell sogar weniger als 1?

Einigen wir uns darauf, dass es veränderte Druckverhältnisse gibt. Druck heißt natürlich in erster Linie: Wandel. Das Magazin DER SPIEGEL veröffentlicht ein 20seitiges Dossier, indem es die Me-Too-Debatte im eigenen Haus untersucht. Eine rühmliche Ausnahme, denn ansonsten werden die Filme der Emanzipation rückwärts abgerollt. Backlash oder: die von vielen Historikern vorhergesehene Re-Aktion auf den russischen Systemcrash und die 89er-Öffnungen, die nicht zuletzt auch Grenzöffnungen waren. Sprachwandel, dem Denkwandel nachkommt. In Ungarn wird das Universitätsfach Gender Studies verboten. Der türkische Präsident schimpft uns Deutsche alle Nazis. Eine Hirnforscherin will zeigen, dass Empathie erlernbar ist – aber ausgerechnet sie mobbt dabei ihre Mitarbeiter*innen. Eine Jagdhundkrawatte und ihr Vogelschiss. Der amerikanische Präsident wird in täglichen Lügen gemessen und gewogen.

Es ist viel Denkfaulheit in der Welt und Erschöpfung an der Zivilisation. Eine Frage ist: Was machen die (einfachen, dummen, faulen falschen, populistischen Sprachkörper und ihre oft ja durchaus smarten, aufschlussreichen Erwiderungen, die auch), was machen all diese Sprachkörper mit uns, die aus Debatten, in der digitalen Alltagssprache, zusammengestellt durch die Filter des/der Anderen auf uns wirken – schüchtern sie uns ein, werden wir sie noch los, wie lange hallen sie nach in den immer zu wenigen Stunden, in denen wir uns ausklinken und etwas GANZ EIGENES LITERARISCHES schaffen wollen? Nutzen wir unsere literarische Freiheit, oder ist diese Freiheit eine Utopie ohne Marktwert, schreiben wir schon nur noch an einem einzigen Text, der mal öffentlich ist und mal Manuskript sich nennt? Werden wir einsprachig, und wäre das hilfreich, weniger anstrengend? Wie weit ist der Weg von einsprachig zu einsilbig?

Nun hat sich ja die Literatur (seit und mit Knausgård) eine neue verspiegelte Trick- und Effektkiste gebaut, mit der sie jedes sogenannt »authentische Sprechen« zu »pseudo-authentischem Sprechen« machen kann. Zu Maria Stepanovas Nach dem Gedächtnis, einem Buch, das just bei Suhrkamp erscheint, heißt es von Verlagsseite: »Ein neues Genre ist erfunden: der ›Metaroman‹. Liebesgeschichten und Reiseberichte, Reflexionen über Fotografie, Erinnerung und Trauma verschmilzt die Stimme der Autorin zu einer spannungsvollen essayistischen Erzählung.« Klingt gut, nach Rachel Cusk, Annie Ernaux – nie war das Ich-Sprechen modischer, nie verlockender. Aber warum eigentlich immer die Stimme der Autorin? Gerade weil uns allen klar ist, dass Autorin und lyrisches Ich niemals zusammenfallen, dass es kein 1:1 zwischen Autor und Ich-Erzähler geben kann, müssen wir doch sehr aufpassen, dass dieses literarische ICH nicht noch weiter verabsolutiert wird. Denn so kunstvoll es gemacht sein kann, so kunstlos und verkürzt wird es oft rezipiert, und am Ende wird fast jede mitverdächtigt, ihr Ich so schutzlos ausliefern zu wollen wie Emmanuel Carrère. Die Literatur trägt den gleichen Schaden davon wie die Welt – weil gerade dieser Weg, der das Individuelle seit den 70er Jahren und dann vor allem nach 1989 fetischisiert, ein gesamtgesellschaftlicher Irrweg ist. Im Übrigen sind wir jetzt auch so weit, dass Literaturkritiker*innen und Leser*innen gar keinen Bock mehr auf das Individuum haben – und es mitunter gänzlich entleeren. Senthuran Varatharajah hat über diese Rezeption richtig und zugespitzt gesagt:

»Authentizität als literarisches Kriterium […] ist die Bestätigung dessen, was ich immer schon gewusst habe, über Menschen, von denen ich nichts weiß und nichts wissen möchte. Es ist ein Synonym für Ressentiment.« 

Das hab ich erst in einer essayistischen Bestandsaufnahme zur deutschsprachigen Literatur gelesen, die Selim Özdoğan verfasst hat. Er widmet sich darin (ein ganz anderer Punkt) auch der Normsprache als Herrschaftsinstrument, die alle anderen Sprachformen neben sich herabstuft.
»Wir bejammern die Verrohung der Sprache, die Anglizismen, die fehlenden Artikel, die Verkürzungen, die Auslassungen, die Vulgarität, die Unfähigkeit, einen geraden Satz zu bilden, der womöglich auch noch mehrere Nebensätze hat. Wir übersehen dabei, dass Texte über literarische Qualitäten verfügen können, auch wenn sie von Menschen geschrieben wurden, deren Sprache nicht Normdeutsch ist.«
Das Nicht-Normdeutsch lagert sich um das Normdeutsch. Auch monologische, lyrische oder comicaffine Prosa gehört dazu. Jede Differenz ist Erweiterung. Und sollte immer zuerst als Bereicherung begriffen werden. Und bitte nicht erst gefeiert werden, wenn alle feiern, wenn man schon ein dekorierter Autor ist wie bspw. Georg Klein.
mehr:
- Mehret die Sprachen, wehret der Glaubwürdigkeit (Jan Bötcher, Logbuch, Suhrkamp, undatiert)
siehe auch:
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