Donnerstag, 2. April 2020

Coronavirus: Auf dem einen Auge blind

Für viele ist es unvorstellbar, dass die Regierung ausnahmsweise etwas richtig macht. Ein Kommentar

In vergangenen Artikeln habe ich die politisch Verantwortlichen teilweise heftig kritisiert. Es gab eklatante Versäumnisse, und wahrscheinlich ist es das Verdienst der Fachleute in der zweiten Reihe, die Politiker zum Handeln gebracht zu haben. Aber das ändert nichts daran, dass die drastischen Maßnahmen zur Eindämmung im Großen und Ganzen richtig sind.

Für die letzten Zweifler noch einmal eine einfache Betrachtung. Italien, Spanien und Frankreich kämpfen bereits mit einer Welle von Notfällen, bei der Menschenleben geopfert werden müssen - obwohl erst ein kleiner Bruchteil der Bevölkerung infiziert war. Denn aus 50.000 positiv Getesteten, selbst wenn man eine zehnfach höhere Dunkelziffer annimmt, wird nicht mehr als ein Prozent der Einwohner (60 Mio). Lässt man 90, 50 oder auch nur 25 Prozent der Bevölkerung sich infizieren, müsste man sich die katastrophale Situation also um den Faktor 25 verstärkt vorstellen (das zeitverzögerte Einsetzen der Krankheit macht die Situation noch schlimmer). Das kann leider sehr schnell gehen, denn bei einer täglichen Zunahme der Infizierten um 30%, wie sie in allen betroffenen Ländern ohne Gegenmaßnahmen zu beobachten war, dauert dies keine zwei Wochen (1,3 hoch 14 =Faktor 39). Im Übrigen sind die Details dieser Rechnung völlig egal, da sie im Ergebnis das Zeitfenster zum Handeln nur um wenige Tage verlängern.

Verrücktheit – hoffentlich – gestoppt

Ich bin froh, dass es in Deutschland wahrscheinlich gelingt, einen derartigen Zusammenbruch zu verhindern, und dass die Wahnsinnsidee einer "Herdenimmunität" zugunsten einer vernünftigen Strategie aufgegeben wurde (Abkehr vom deutschen Sonderweg). Vielleicht könnte dies auch einmal Anlass zum Durchschnaufen sein, bevor man die nächsten Forderungen erhebt.

Stattdessen mehren sich die Stimmen, die sich über die angebliche Hysterie beklagen: Corona sei nicht so schlimm, aber die Maßnahmen dagegen schon. Viele Publizisten können offenbar eine einfache Rechnung wie die obige nicht in eigener Denksouveränität nachvollziehen. Stattdessen beruft man sich auf Autoritäten wie ehemalige Lungenärzte, Klinikdirektoren oder emeritierte Professoren der Mikrobiologie und Virologie.

Frage: Wie viele Menschen mit vergleichbaren Titeln und Berufswegen gibt es wohl in Deutschland? Tausend? Zehntausend? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, darunter 2-3 zu finden, die sich gerne interviewen lassen, ohne die rechnerischen Grundlagen der Epidemiologie zu verstehen? Ziemlich groß. Aber diese Überlegung beruht ja auch auf Mathematik, der ungeliebten Wissenschaft der Zahlen.

mehr:
- Coronavirus: Das Versagen der alternativen Medien (Alexander Unzicker, Telepolis, 02.04.2020)
mehr Unzicker:
„Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur“ – Alexander Unzicker bei BUCHKOMPLIZEN (Post, 20.10.2019)
- „Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur.“ (Post, 21.06.2019)
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eine Bemerkung:
Wenn ich eins in den letzten sechs Jahren gelernt habe, dann, daß es einfach unziemlich ist, Einstellungen anderer Menschen oder Gruppen als »wahnsinnig« zu bezeichnen. Deshalb werde ich künftig solche Artikel nicht mehr posten oder verlinken.

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