Zur Person: Ulrich Keil, Jahrgang 1943, war Direktor des Instituts für Epidemiologie und Sozialmedizin der Universität Münster, arbeitete über Jahrzehnte als Berater der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und fungierte bis 2002 als Vorsitzender der Europäischen Region der International Epidemiological Association (IEA), des Weltverbands der Epidemiologen.
Herr Keil, die mangelnde Aussagekraft der vom Robert Koch-Institut (RKI) täglich veröffentlichten Fallzahlen der positiv auf das SARS-CoV-2-Virus Getesteten ist auf den NachDenkSeiten wiederholt problematisiert worden (vgl. z. B hier und hier). Nun gehen diese Zahlen seit mehreren Wochen tendenziell nach unten und bewegen sich inzwischen stabil unter dem Niveau von 2.000. Am Samstag zählte das RKI sogar erstmals unter 1.000 Fälle, wobei die fraglichen Neuinfektionen mitunter schon vor zwei Wochen erfolgten. Wie interpretieren Sie als Epidemiologe diesen Verlauf?
Die Entwicklung deckt sich mit den Verlaufsdaten, wie wir sie bereits von den bisher bekannten Coronaviren kennen. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass der Peak, also der Höhepunkt des Infektionsgeschehens, sich über die Monate Januar und Februar erstreckt. Ende März gehen die Zahlen dann schon deutlich zurück und bis Ende April, Anfang Mai klingt die Ausbreitung des Virus ab. Es ist möglich, dass ein genetisch leicht verändertes Coronavirus im nächsten Herbst oder Winter wieder kommt. Das erleben wir alljährlich auch bei anderen Erregern der Grippe oder grippeähnlicher Erkrankungen.
Wie ist es zu erklären, dass diese Viren, also die bislang bekannten Corona- oder auch Influenzaerreger, irgendwann im Frühjahr einfach abtauchen?
Eine endgültige Antwort auf diese Frage kann die Wissenschaft bis dato nicht geben, aber es gibt natürlich Erklärungsansätze. Es wird angenommen, dass das Immunsystem der Menschen mit den höheren Temperaturen und der intensivierten Sonneneinstrahlung gestärkt wird. Eine Rolle könnte auch die erhöhte UV-Strahlung spielen oder die Tatsache, dass man sich wieder vermehrt im Freien aufhält. Die Verbreitung von Viren wird in abgeschlossenen Räumen begünstigt. Wahrscheinlich ist, dass die Erreger einfach auf mehr Widerstandskraft stoßen, weil sich eine Herdenimmunität gebildet hat und sie deshalb weniger neue Infektionen auslösen können. Wie genau das abläuft, ist bislang nicht erwiesen, wogegen die Saisonalität verschiedener Grippeerreger, darunter Coronaviren, sehr wohl erwiesen ist. Zu nennen ist hier vor allem die Tecumseh-Studie, die schon in den 1960er Jahren durchgeführt wurde und die gezeigt hat, dass Coronaviren immer wieder kommen und gehen und an vielen Grippewellen beteiligt sind.
Es bleibt nur die Frage, ob sich auch SARS-CoV-2 als ein neues und bisher nicht bekanntes Corona-Virus daran hält. Wie schätzen Sie das ein?
Ich vertrete seit langem die Position, dass für die diversen Atemwegserkrankungen im Laufe der saisonalen Grippe ein Cocktail verschiedener Erreger ursächlich ist. Dabei spielen dann Influenza A oder B, Parainfluenza oder eben auch Coronaviren eine Rolle. Allerdings unterliegt der Grad der Beteiligung einem steten Wandel. Auf das Konto von Influenza gehen einmal sehr viele und im nächsten Jahr wieder weniger Erkrankungen. Dafür stoßen dann andere Erreger in diese Lücke. Und genau das erleben wir nach meinem Ermessen in diesem Jahr. Während Influenzainfektionen sich auf einem sehr niedrigen Level bewegen, ist es nun dieses neue Coronavirus, das sich in den Vordergrund gedrängt hat.
Womit aber noch nicht gesagt ist, dass es sich wie seine Verwandten im Frühling einfach aus dem Staub macht.
Natürlich ist dieses Virus neu, also eine Mutation von Vorgängererregern. Aber auch das ist ja völlig üblich und der Grund dafür, dass wir gegen die Influenza jedes Jahr einen neuen Impfstoff entwickeln. Wenn dieser dann trotzdem längst nicht in allen Fällen Wirkung zeigt, dann beweist das ja gerade, dass man es hier mit ständigen Veränderungen zu tun hat und außerdem immer eine Reihe von Viren involviert ist. Die Herangehensweise des RKI und von Christian Drosten von der Berliner Charité halte ich auch deshalb für verkürzt. Virologen haben häufig eine sehr monokausale Sichtweise, nach dem Motto: Ein Virus – eine Krankheit – eine Todesursache.
mehr:
- Coronavirus: Epidemische Lage von nationaler Tragweite? (Ralf Wurzbacher interviewt den Epidemiologen Ulrich Keil, NachDenkSeiten, 04.05.2020)
siehe auch:
- xxx (Post, )
x
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen