Sonntag, 3. Mai 2020

„Sie werden uns ihre Freiheit zu Füßen legen“


In Dostojewskijs letztem Roman Die Brüder Karamasow von 1880 gibt es eine seltsame Textpassage, scheinbar ohne Zusammenhang zur eigentlichen Handlung, eingeschaltet als mündliche Erzählung eines der Protagonisten. Im spanischen Sevilla des 16. Jahrhunderts erscheint ein Mann, der bei seinen öffentlichen Reden großen Zulauf hat und den viele für Jesus halten. Er wird beobachtet, denunziert und von der Inquisition verhaftet, der Großinquisitor selbst verhört ihn des Nachts in seiner Zelle. Das Gespräch kreist um Jesu berühmten Wüstenaufenthalt und die Versuchung durch den Satan, die Jesus von sich wies, ferner um die Konzepte „Sicherheit“ und „Freiheit“, wobei „Sicherheit“ hier durch die Brote symbolisiert wird, die Jesus aus Steinen hervorzaubern sollte.

Der Großinquisitor erklärt, Jesus hätte die Menschen überfordert, indem er ihnen die Freiheit zutraute. Doch die Freiheit könnten sie nicht lange ertragen, sie sei für die meisten von ihnen eine viel zu schwere Last. In Notzeiten vor die Entscheidung gestellt, ob sie lieber in Sicherheit oder in Freiheit leben wollten, würden sie sich für die Sicherheit entscheiden, für das Brot. „So wird es denn damit enden“, sagt der Großinquisitor, „dass sie uns ihre Freiheit zu Füßen legen und sagen: ‚Knechtet uns, aber macht uns satt‘.“ Beziehungsweise – Sättigung als Metapher für Sicherheit gesetzt – „gebt uns Sicherheit“.


Dostojewskijs Skepsis gegenüber der Haltbarkeit eines auf persönlicher Freiheit basierenden, demokratischen Systems gründete sich nicht nur auf die in den Evangelien überlieferte deprimierende Menschenkenntnis des Satan, sondern auch auf die schon früher, im biblischen Buch Samuel, beschriebene Transformation der proto-demokratischen Regierungsform der Israeliten in eine autoritäre Alleinherrschaft. Die Israeliten wurden in den ersten Jahrhunderten nach Eintritt ins „Gelobte Land“ von Juristen („Richtern“) regiert, die ihrerseits von einem Parlament („Ältestenrat“) gewählt waren, neben der judikativen und legislativen Gewalt gab es als dritte Säule die Priesterschaft, die allerdings ohne weltliche Macht blieb, da ihr nach dem Mosaischen Gesetz der Landbesitz versagt war.

mehr:
- „Sie werden uns ihre Freiheit zu Füßen legen“ (Chaim Noll, AchGut, 02.04.2020)
siehe auch:

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