Freitag, 16. Oktober 2020

Corona: Medien, Politik und hektischer Aktionismus

[…] Mich beunruhigen seit Monaten die vielen Trompeter im Corona-Panikorchester. Sie verbreiten Angst und Schrecken. Als Medienforscher beobachte ich mit großer Sorge den Overkill, mit dem Leitmedien, insbesondere das öffentlich-rechtliche Fernsehen, aber auch Zeitungen wie SZ oder FAZ, über die Pandemie berichten. Meine These: Nicht die Regierenden haben die Medien vor sich hergetrieben, wie das Verschwörungstheoretiker so gerne behaupten. Vielmehr haben die Medien mit ihrem grotesken Übersoll an Berichterstattung Handlungsdruck in Richtung Lockdown erzeugt, dem sich die Regierungen in Demokratien kaum entziehen konnten.

Obendrein überschütten uns die Medien im tagtäglichen Kampf um Aufmerksamkeit ziemlich hemmungslos mit Statistiken zu Corona-Infizierten und -Toten. Es ist weithin offengeblieben, ob letztere am oder nur mit dem Coronavirus verstarben. Aber Angst, angesteckt zu werden, haben vermutlich wir alle bekommen.

Die Nachrichtenauswahl ist ja mit die vornehmste Aufgabe des Journalismus. Es gilt noch immer die Einschätzung des Soziologen Niklas Luhmann, dass wir das, was wir über die Welt wissen, aus den Medien erfahren - wobei seither die sozialen Netzwerke mit ihren Echokammern hinzugekommen sind. Die Medien orientieren sich, inzwischen zum Teil von Algorithmen gesteuert, in ihrer Auswahl immer mehr an der Nachfrage der Nutzer. Genau an dieser Stelle wird die Aufmerksamkeitsökonomie, welche die Gesellschaft prägt, zum Verhängnis. Überaufmerksamkeit und einseitige Fokussierung erzeugen beim Publikum Interesse, aber eben auch Angst; diese Angst generiert steigende Nachfrage nach Corona-News, die inzwischen ja online in Echtzeit messbar ist. Die Nachfrage wiederum verleitet Redaktionen dazu, diese zu bedienen und die Berichterstattung weiter auf die Pandemie hin zu verengen - bis hin zum Tunnelblick. Alles, was nicht mit Corona zu tun hat, wird über Monate hinweg nachrangig.

Dummerweise liefern unter solchen Bedingungen nicht nur Medien, was ihre Nutzer wollen, sondern auch Politiker, was ihre Wähler wünschen. Diese wiederum laufen, vom Virus eingeschüchtert, eher dem strammen Markus Söder hinterher als dem differenzierenden, manchmal zaudernden Politikertyp eines Armin Laschet. Die Schweizer Ökonomin Margit Osterloh befürchtet in einem "Weißbuch zur Informationsqualität in Deutschland" (zu dem auch ich etwas beisteuern durfte), dass sich zusammen mit Covid-19 ein "Autoritätsvirus" ausbreitet: Es gebe eine "bereitwillige Selbstentmündigung des Souveräns". Wir hätten widerstandslos hingenommen, dass fundamentale Grundrechte eingeschränkt wurden.

Es sind im Übrigen weithin dieselben Experten, die vor die Kamera geholt werden. Was Virologen, Epidemiologen, Pressesprecher regierungsnaher Forschungsinstitute zuliefern, kann nicht angemessen hinterfragt werden, denn in vielen Redaktionen gibt es zu wenige Wissenschaftsjournalisten, sprich: Mediziner und Naturwissenschaftler, die für Vielfalt der Quellen sorgen und diese einordnen könnten.

Wie die Medien selbst mit Corona-Informationen umgehen, bleibt ebenso unterbelichtet. Die einschlägig spezialisierten Medienressorts wurden oftmals längst ausgedünnt oder weggespart. Außerdem will man ja nicht das eigene Nest beschmutzen. Während Verschwörungstheoretiker meinen, die Medien würden von Regierungszentralen oder gar Bill Gates ferngesteuert, gibt es eine viel näherliegende Erklärung für die erstaunliche Selbstgleichrichtung der Corona-Berichterstattung: den Herdentrieb. Meine persönlichen Helden in Zeiten der Pandemie sind deshalb Verhaltensökonomen und Sozialpsychologen, die dem Herdenverhalten unter Bedingungen der Unsicherheit nachspüren. "Groupthink" ist zwar menschlich - aber nicht entschuldbar, wenn wir herkömmliche Maßstäbe der Professionalität anlegen, die den Journalismus leiten sollten.
 
[Stephan Russ-Mohl, Herdentrieb, SZ, 16.10.2020

siehe auch:
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