Alle reden über Günter Grass und seine Vergangenheit. Einer hat bislang geschwiegen: Helmut Frielinghaus. Jetzt hat sich Grass’ langjähriger Lektor zu Wort gemeldet. In einem Brief an Freunde und Lektorenkollegen kommentiert er die Vorgänge – und den in seinen Augen grotesken Medienrummel. Der HAZ stellte er den Brief zum Abdruck zur Verfügung.
Liebe Freunde, einige von Euch haben mich nach meiner Meinung über die Debatte um Günter Grass gefragt. Eine in Kalifornien lebende frühere Verlagskollegin schreibt: „Ich wüsste gern, was Deine Gedanken zu Günter Grass sind.“ Ein amerikanischer Übersetzer fragt: „Was ist los in Deutschland, wie ist es möglich, dass die Medien auf diese Weise über Günter Grass herfallen?“
Ich will versuchen, auf beides zu antworten.
Ich habe das Manuskript des Buches zwei- oder dreimal im Herbst letzten Jahres und dann noch zweimal im Januar und Februar dieses Jahres gelesen. Ich habe bei der Passage über Günters kurzfristige Zugehörigkeit zur Waffen-SS nur kurz gestutzt und weitergelesen. Beim Wiederlesen habe ich gedacht: Das wird ein paar hämische Artikel in BILD und anderen Zeitungen geben. Ich habe mir aber keine weiteren Gedanken gemacht. Ich bin selbst ab 1941 widerwillig „Jungvolkjunge“ in der „Hitlerjugend“ und am Ende des Kriegs, 1944/45, offiziell, wenn auch nicht in der Praxis, Angehöriger des „Volkssturms“ gewesen. Meine älteren Brüder waren beide Luftwaffenhelfer, der ältere hatte ein Hitlerbild in seinem Zimmer zu Hause, das mein Vater, ein protestantischer Pfarrer und kein Nazi, in der Nacht, in der unser Haus nach einem Luftangriff abbrannte, ins Feuer warf.
Obwohl Günter und ich aus sehr unterschiedlichen Elternhäusern kommen, denken wir, politisch für immer geprägt von dem, was wir nach dem Krieg erfuhren, in vielem ähnlich, das heißt, ich teile seit Jahrzehnten sehr viele von Günters Ansichten in politischen Fragen, und natürlich in literarischen Fragen. Seit 1989 bin ich sein Lektor.
Ich kann verstehen, dass viele, auch einige von Günters Freunden wie zum Beispiel Salman Rushdie, der im Übrigen in BBC 4 sehr überzeugend über Günter und sein Werk sprach, enttäuscht fragen: „Warum hat er über diese kurze Zugehörigkeit zur Waffen-SS (mit 16, 17 Jahren) nicht viel früher gesprochen?“
Ich könnte umgekehrt fragen: „Warum hätte er darüber sprechen sollen? Diese dem Jugendlichen verordnete kurzfristige Zugehörigkeit zu einer als „Kanonenfutter“ ausgebildeten Einheit hatte nach dem Krieg keinerlei Bedeutung mehr. Bedeutung hatte, dass Günter, wie er oft laut gesagt und immer wieder geschrieben hat, an Hitler und den „Endsieg“ geglaubt und bis zu den Nürnberger Prozessen nicht geglaubt hatte, was in der Nachkriegszeit über die Verbrechen der Deutschen bekannt wurde. Das auszusprechen war sein mutiges Bekenntnis.
Günter und ich haben über das Manuskript und auch über die Waffen-SS-Passage gesprochen, aber ich bin, ehrlich gesagt, nicht einmal auf den Gedanken gekommen, ihn zu fragen: Warum sagst Du das erst jetzt? Ich bin nicht auf den Gedanken gekommen, weil mir die Tatsache und Günters Schweigen darüber nichts bedeuten. Es wäre praktischer und einfacher gewesen, wenn er früher darüber gesprochen hätte, aber in meinen Augen nicht „moralischer“.
Das ungeheuerliche Echo auf die Mitteilung, das zwei Wochen vor Erscheinen des Buches durch einen Leitartikel von Frank Schirrmacher in der FAZ und ein Interview mit Günter in derselben Ausgabe der Zeitung ausgelöst wurde, hat in meinen Augen etwas Groteskes und Absurdes, aber auch etwas Gespenstisches, es ist mir unheimlich. Seit Mitte August haben unzählige Journalisten über eine Episode im Leben eines Menschen geschrieben, ohne das Buch gelesen zu haben, ohne sich zu erinnern, wie oft Günter öffentlich, in Reden und Schriften, sich zu den Fehlern und Versäumnissen seiner Jugend bekannt hat. Wer hat so viel öffentliche Buße getan? Die Erkenntnis, dass er als Jugendlicher auf der falschen Seite gestanden und zu wenig gefragt hat, ist die entscheidende Grundlage, seines Schreibens, seiner literarischen und politischen Arbeit in fünf Jahrzehnten.
Ich weiß nicht, wie man das Buch „Beim Häuten der Zwiebel“ lesen kann, ohne an eigene Fehler, Irrtümer und Versäumnisse zu denken. Inzwischen haben sich viele Schriftsteller aus aller Welt zu Wort gemeldet und gesagt, dass Günters Schweigen über dieses eine Detail weder sein literarisches Werk noch seine politische Arbeit schmälert.
Ich möchte auf einen anderen Aspekt eingehen. Die Selbstgerechtigkeit und Feindseligkeit, mit der in Deutschland die Debatte geführt wird, die grotesken und absurden Verdächtigungen und Unterstellungen, die gegen Günter und den Verlag geäußert wurden, haben für mich das Ansehen des literarischen Lebens in Deutschland und der deutschen Literaturkritik beschädigt. Was sind die Hintergründe dieser massiven Angriffe, die es in dieser Form bisher, soweit ich mich erinnern kann, nicht gegeben hat? Ist es Rache, weil Günter mit seiner scharfen politischen Kritik an nach dem Krieg noch amtierenden Nationalsozialisten oder auch an dem westdeutschen Vorgehen bei der Vereinigung 1989,1990 und danach oft recht gehabt hat?
Ich weiß es nicht. Aber ich merke tagtäglich, dass mich – sicher auch auf Grund meines Alters – das, was da jetzt geschehen ist und geschieht, beunruhigt. Der Ton der Debatte, die ja bisher keine wirkliche – nämlich in Kenntnis des neuen Buches und des Lebens von Günter geführte – Debatte ist, erinnert mich an die dreißiger und vierziger Jahre. Haben wir, die Deutschen, einen – gewöhnlich hinter zivilisiertem Verhalten verborgenen, aber von Zeit zu Zeit ausbrechenden – Hang, über Einzelne, die anders sind, mit Hass herzufallen und zu Gericht zu sitzen?
Um meinen Freunden deutlich zu machen, wie angewidert und beunruhigt ich bin, sage ich, dass ich, hätte ich die Möglichkeit, gern in ein anderes Land umziehen würde.
Günter wird „Beim Häuten der Zwiebel“, wie geplant, am 4. September in Berlin vorstellen, er wird an allen vorgesehenen Lesungen und an dem Übersetzertreffen im Dezember in Lübeck festhalten. Die freundlichen Nachrichten aus Gdansk und die Äußerungen von Schriftstellern und Übersetzern haben ihm gut getan.
Ich grüße Euch herzlich,
Helmut Frielinghaus
Helmut Frielinghaus
… geboren 1931, ist Journalist, Lektor und Übersetzer. Seit 1989 lektoriert er die Bücher von Günter Grass. Seit 1991 arbeitet Frielinghaus als Übersetzer – unter anderem hat er Bücher von John Updike und Raymond Carver ins Deutsche übertragen. Zu seinen Publikationen gehören: „Der Butt spricht viele Sprachen: Grass-Übersetzer erzählen“ und „ The Günter Grass Reader“. Für den Göttinger Steidl Verlag hat Frielinghaus mehrmals die Treffen zwischen Günter Grass und seinen Übersetzern moderiert.
Obenstehender Brief ist das beste, was ich seit Beginn dieses hysterischen Raschelns im Blätterwald gelesen habe. Die überall spürbare „political correctness“, die Häme, sowohl auf dem rechten wie auf dem linken politischen Spektrum, ist realitätsfremd, unerträglich selbstgerecht und völlig überzogen. Vielleicht fragen wir uns in ein paar Jahren einmal, ob es nicht diese politisch korrekte Überempfindlichkei ist – über die 1988 auch Bundestagspräsident Jenninger mit seiner ehrlichen, gutgemeinten und mutigen (er hätte es sich ja auch einfach machen können) Gedenkrede über die Reichskristallnacht stolperte –, die es Günter Grass angezeigt schienen ließ, zu schweigen. Man stelle sich vor, was passiert wäre, wäre er in den 70er Jahren damit herausgerückt …
Liebe Freunde, einige von Euch haben mich nach meiner Meinung über die Debatte um Günter Grass gefragt. Eine in Kalifornien lebende frühere Verlagskollegin schreibt: „Ich wüsste gern, was Deine Gedanken zu Günter Grass sind.“ Ein amerikanischer Übersetzer fragt: „Was ist los in Deutschland, wie ist es möglich, dass die Medien auf diese Weise über Günter Grass herfallen?“
Ich will versuchen, auf beides zu antworten.
Ich habe das Manuskript des Buches zwei- oder dreimal im Herbst letzten Jahres und dann noch zweimal im Januar und Februar dieses Jahres gelesen. Ich habe bei der Passage über Günters kurzfristige Zugehörigkeit zur Waffen-SS nur kurz gestutzt und weitergelesen. Beim Wiederlesen habe ich gedacht: Das wird ein paar hämische Artikel in BILD und anderen Zeitungen geben. Ich habe mir aber keine weiteren Gedanken gemacht. Ich bin selbst ab 1941 widerwillig „Jungvolkjunge“ in der „Hitlerjugend“ und am Ende des Kriegs, 1944/45, offiziell, wenn auch nicht in der Praxis, Angehöriger des „Volkssturms“ gewesen. Meine älteren Brüder waren beide Luftwaffenhelfer, der ältere hatte ein Hitlerbild in seinem Zimmer zu Hause, das mein Vater, ein protestantischer Pfarrer und kein Nazi, in der Nacht, in der unser Haus nach einem Luftangriff abbrannte, ins Feuer warf.
Obwohl Günter und ich aus sehr unterschiedlichen Elternhäusern kommen, denken wir, politisch für immer geprägt von dem, was wir nach dem Krieg erfuhren, in vielem ähnlich, das heißt, ich teile seit Jahrzehnten sehr viele von Günters Ansichten in politischen Fragen, und natürlich in literarischen Fragen. Seit 1989 bin ich sein Lektor.
Ich kann verstehen, dass viele, auch einige von Günters Freunden wie zum Beispiel Salman Rushdie, der im Übrigen in BBC 4 sehr überzeugend über Günter und sein Werk sprach, enttäuscht fragen: „Warum hat er über diese kurze Zugehörigkeit zur Waffen-SS (mit 16, 17 Jahren) nicht viel früher gesprochen?“
Ich könnte umgekehrt fragen: „Warum hätte er darüber sprechen sollen? Diese dem Jugendlichen verordnete kurzfristige Zugehörigkeit zu einer als „Kanonenfutter“ ausgebildeten Einheit hatte nach dem Krieg keinerlei Bedeutung mehr. Bedeutung hatte, dass Günter, wie er oft laut gesagt und immer wieder geschrieben hat, an Hitler und den „Endsieg“ geglaubt und bis zu den Nürnberger Prozessen nicht geglaubt hatte, was in der Nachkriegszeit über die Verbrechen der Deutschen bekannt wurde. Das auszusprechen war sein mutiges Bekenntnis.
Günter und ich haben über das Manuskript und auch über die Waffen-SS-Passage gesprochen, aber ich bin, ehrlich gesagt, nicht einmal auf den Gedanken gekommen, ihn zu fragen: Warum sagst Du das erst jetzt? Ich bin nicht auf den Gedanken gekommen, weil mir die Tatsache und Günters Schweigen darüber nichts bedeuten. Es wäre praktischer und einfacher gewesen, wenn er früher darüber gesprochen hätte, aber in meinen Augen nicht „moralischer“.
Das ungeheuerliche Echo auf die Mitteilung, das zwei Wochen vor Erscheinen des Buches durch einen Leitartikel von Frank Schirrmacher in der FAZ und ein Interview mit Günter in derselben Ausgabe der Zeitung ausgelöst wurde, hat in meinen Augen etwas Groteskes und Absurdes, aber auch etwas Gespenstisches, es ist mir unheimlich. Seit Mitte August haben unzählige Journalisten über eine Episode im Leben eines Menschen geschrieben, ohne das Buch gelesen zu haben, ohne sich zu erinnern, wie oft Günter öffentlich, in Reden und Schriften, sich zu den Fehlern und Versäumnissen seiner Jugend bekannt hat. Wer hat so viel öffentliche Buße getan? Die Erkenntnis, dass er als Jugendlicher auf der falschen Seite gestanden und zu wenig gefragt hat, ist die entscheidende Grundlage, seines Schreibens, seiner literarischen und politischen Arbeit in fünf Jahrzehnten.
Ich weiß nicht, wie man das Buch „Beim Häuten der Zwiebel“ lesen kann, ohne an eigene Fehler, Irrtümer und Versäumnisse zu denken. Inzwischen haben sich viele Schriftsteller aus aller Welt zu Wort gemeldet und gesagt, dass Günters Schweigen über dieses eine Detail weder sein literarisches Werk noch seine politische Arbeit schmälert.
Ich möchte auf einen anderen Aspekt eingehen. Die Selbstgerechtigkeit und Feindseligkeit, mit der in Deutschland die Debatte geführt wird, die grotesken und absurden Verdächtigungen und Unterstellungen, die gegen Günter und den Verlag geäußert wurden, haben für mich das Ansehen des literarischen Lebens in Deutschland und der deutschen Literaturkritik beschädigt. Was sind die Hintergründe dieser massiven Angriffe, die es in dieser Form bisher, soweit ich mich erinnern kann, nicht gegeben hat? Ist es Rache, weil Günter mit seiner scharfen politischen Kritik an nach dem Krieg noch amtierenden Nationalsozialisten oder auch an dem westdeutschen Vorgehen bei der Vereinigung 1989,1990 und danach oft recht gehabt hat?
Ich weiß es nicht. Aber ich merke tagtäglich, dass mich – sicher auch auf Grund meines Alters – das, was da jetzt geschehen ist und geschieht, beunruhigt. Der Ton der Debatte, die ja bisher keine wirkliche – nämlich in Kenntnis des neuen Buches und des Lebens von Günter geführte – Debatte ist, erinnert mich an die dreißiger und vierziger Jahre. Haben wir, die Deutschen, einen – gewöhnlich hinter zivilisiertem Verhalten verborgenen, aber von Zeit zu Zeit ausbrechenden – Hang, über Einzelne, die anders sind, mit Hass herzufallen und zu Gericht zu sitzen?
Um meinen Freunden deutlich zu machen, wie angewidert und beunruhigt ich bin, sage ich, dass ich, hätte ich die Möglichkeit, gern in ein anderes Land umziehen würde.
Günter wird „Beim Häuten der Zwiebel“, wie geplant, am 4. September in Berlin vorstellen, er wird an allen vorgesehenen Lesungen und an dem Übersetzertreffen im Dezember in Lübeck festhalten. Die freundlichen Nachrichten aus Gdansk und die Äußerungen von Schriftstellern und Übersetzern haben ihm gut getan.
Ich grüße Euch herzlich,
Helmut Frielinghaus
Helmut Frielinghaus
… geboren 1931, ist Journalist, Lektor und Übersetzer. Seit 1989 lektoriert er die Bücher von Günter Grass. Seit 1991 arbeitet Frielinghaus als Übersetzer – unter anderem hat er Bücher von John Updike und Raymond Carver ins Deutsche übertragen. Zu seinen Publikationen gehören: „Der Butt spricht viele Sprachen: Grass-Übersetzer erzählen“ und „ The Günter Grass Reader“. Für den Göttinger Steidl Verlag hat Frielinghaus mehrmals die Treffen zwischen Günter Grass und seinen Übersetzern moderiert.
Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 2.9.2006
Obenstehender Brief ist das beste, was ich seit Beginn dieses hysterischen Raschelns im Blätterwald gelesen habe. Die überall spürbare „political correctness“, die Häme, sowohl auf dem rechten wie auf dem linken politischen Spektrum, ist realitätsfremd, unerträglich selbstgerecht und völlig überzogen. Vielleicht fragen wir uns in ein paar Jahren einmal, ob es nicht diese politisch korrekte Überempfindlichkei ist – über die 1988 auch Bundestagspräsident Jenninger mit seiner ehrlichen, gutgemeinten und mutigen (er hätte es sich ja auch einfach machen können) Gedenkrede über die Reichskristallnacht stolperte –, die es Günter Grass angezeigt schienen ließ, zu schweigen. Man stelle sich vor, was passiert wäre, wäre er in den 70er Jahren damit herausgerückt …
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