Montag, 4. März 2013

Sighard Neckel: Die Refeudalisierung der Wirtschaftsgesellschaft

 
Das philosophische Radio
mit Sighard Neckel über
Die Refeudalisierung der Wirtschaftsgesellschaft
Moderation:  Jürgen Wiebicke

[…] Entbettung der Wirtschaft: Die Wirtschaft ist heute weniger eingebettet in soziale Normen, in kulturelle Vorstellungen und verletzt sogar vielfach die kulturellen Werte, an die wir uns gleichzeitig doch auch gebunden fühlen.
[…]
Diejenigen, die in der Vermögenshierarchie an der Spitze stehen, die verdanken ihr Vermögen und ihren Reichtum häufig leistungslosen Quellen. Sie erzielen häufig Gewinne, ohne daß sie für diese Gewinne Risiken eingehen müssen, […] daß an der Spitze der Hierarchie eine Klasse stehen kann, die nicht durch Leistung und nicht durch Risiko tatsächlich auch in ihrem Handeln bestimmt ist.
[…]
Der heutige, durch die Finanzmärkte getriebene moderne Kapitalismus im Wesentlichen eine Form der Reichtumsproduktion in den Oberklassen hervorbringt, die nicht durch eine risikohaltige Unternehmertätigkeit hervorgebracht wird und auch nicht durch Erwerbsleistungen, sondern hervorgebracht wird durch Vermögensgewinne, die ohne Leistungen zustande kommen, bzw. durch Erträge, die sich auf das Leistungsprinzip nicht mehr zurückführen lassen und auch in der Öffentlichkeit durch eine Verletzung des Leistungsgedankens empfunden werden.
[…]
Wir haben heute mit einer Führungsschicht zu tun, die, jedenfalls wenn wir über die Finanzmärkte sprechen – nicht über alle anderen wirtschaftlichen Gebiete –, dann haben wir mit einer Führungsschicht zu tun, mit einer Eigentümerklasse, die ihre Gewinne ohne Risiko erzielt, weil das Risiko, etwa der finanziellen Spekulation, Dritte tragen, die Allgemeinheit, die Staaten, die Rettungsprogramme. Und das ist schon eine Verletzung der Vorstellung dessen, was der Kapitalismus als eine Art von Wertordnung immer auch als Rechtfertigung von Gewinnen verstanden hat. Und hohe Gewinne sollten gerechtfertigt sein, wenn dieser Gewinnerzielung auch das Risiko entspricht im Fall eines wirtschaftlichen Fehlschlags, die Verluste tragen zu müssen.
 […]
In den meisten Berufen […] ist es heute so, daß viel größere Leistungen erwartet und verlangt werden, als das in früheren Zeiten der Fall gewesen ist. Nur: mit der Leistungserbringung, die man von den Menschen erwartet, verbindet sich nicht mehr das Versprechen der modernen Gesellschaft, nämlich, daß Leistungen Wohlstand begründen und Leistungen sozialen Aufstieg hervorbringen können.
[…]
Auf der anderen Seite kommen die Erträge der wirtschaftlichen Führungsgruppen, insbesondere auf den Finanzmärkten, durch Prozesse zustande, die auf Leistungen nicht mehr zurückzuführen sind. Und diese beiden Faktoren gemeinsam, daß oben nicht mehr gilt – das Leistungsprinzip –, was unten aber verstärkt gefordert wird, ohne daß man dafür aber auch einen entsprechenden Lohn erhält, das irritiert die Menschen…
[…]
Wir haben Entwicklungen […], die bemerkenswert sind. Wir müssen und das einmal vorstellen:
1989, und wir sprechen über die Regierungszeit Kohl, das heiß: es war keine radikal sozialdemokratische oder sozialistische Regierung an der Macht. 1989 betrug das Durchschnittseinkommen der DAX-Vorstände, der Vorstände der deutschen DAX-Unternehmen, 500.000 D-Mark. Im Jahre 2010 ist das Durchschnittseinkommen der Vorstände der DAX-Unternehmen auf 6 Millionen Euro gewachsen. Das Verhältnis zwischen den Vorstandsgehältern deutscher Aktiengesellschaften zu den Durchschnittsgehältern wiederum der Beschäftigten bei diesen Aktiengesellschaften lag in früheren Zeiten – noch Anfang 1990 – bei 20 : 1. Heute geht das bis 200 : 1. Und das geschieht in einer Zeit von ungefähr 20 Jahren.
[…]
Es ist in den beiden letzten Jahrzehnten häufig genug so gewesen, daß sich die Politik sich so verstanden hat, der Wirtschaft, wie es dann hieß, günstige Investitionsbedingungen zu verschaffen. Dazu gehörten auch die Deckelung […] der Arbeitnehmereinkommen. Das gehörte mit zu dem Konzept des sogenannten Wettbewerbsstaates, das wir in den letzten zwei Jahrzehnten erlebt haben. Und dieser Staat und die Politik, die diesen Staat bestimmt, ist im Wesentlichen damit befaßt gewesen, in der Konkurrenz unterschiedlicher Länder den Kapitalanlegern die günstigsten Bedingungen bereitzustellen, und dazu gehörten dann eben auch vergleichsweise niedrige Löhne, flexibilisierte Arbeitsmärkte, die Mini-Jobs und so weiter und so fort. So daß sich die Politik eigentlich in den letzten Jahren – nicht durchgängig, aber sehr weitgehend – verabschiedet hat, die Interessen auch der Arbeitnehmerschaft tatsächlich zu repräsentieren. Die Interessen der Wirtschaft sind durch dieses Konzept des Wettbewerbsstaats – »Wir wollen Deutschland wettbewerbsfähig machen oder wettbewerbsfähig erhalten« –, dadurch sind die Interessen der Arbeitnehmerschaft vielfach auch in den Hintergrund getreten.
[…]
Drei Jahre nach der Finanzkrise, und diese Finanzkrise hat dazu geführt, daß vielfach die öffentlichen Haushalte […] tief in die Schulden gekommen sind, schon drei Jahre nach der Finanzkrise – heute, fünf Jahre nach der Finanzkrise, ist das noch mehr der Fall – hat man festgestellt, daß die vermögenden Schichten in den Vereinigten Staaten, in den europäischen Ländern durch diese Finanzkrise gar nicht verloren haben, sondern dennoch gewonnen haben und Vermögenszuwächse zu verbuchen hatten. […] Hier steht das Verhältnis von […] materiellen Einkünften und dem Nutzen, den die Allgemeinheit davon hat, in einem direkten Gegensatz. Hier beutet gewissermaßen eine Eigentümerklasse an Anlagekapital die Gesellschaften insgesamt aus, um sich Vorteile zu verschaffen.
[…]
Es gibt interessante Einsichten aus der Spieltheorie, die sich übertragen lassen. Es gibt die Einsicht, daß immer dann, wenn wirtschaftliche Akteure in längere Kooperationsketten einbegriffen sind, wenn man seinem Verhandlungs- und Vertragspartner, seinem Kunden, nicht nur einmal begegnet, sondern weiß, daß man ihm auch in der Zukunft begegnen wird, wenn man mit Anbietern auch in der Zukunft kooperieren muß, dann nimmt die Tendenz, unbedingt den eigenen Nutzen absolut durchsetzen zu müssen, ab. Wenn wirtschaftlicher Erfolg sich als eine Ökonomie der günstigen Gelegenheit darstellt, dann kommt es tatsächlich darauf an, daß ich im richtigen Moment zuschlage – hit and run – und ohne Blick auf die Kosten, ohne Blick auf die sozialen Kosten versuche, meinen größtmöglichen Vorteil zu realisieren. Und das ist die Gefahr, die in der Finanzmarktökonomie steckt, weil es eine Ökonomie ist, die sich relativ weit abkoppelt von der Notwendigkeit, mit anderen Gruppen kooperieren zu müssen. Immer dann, wenn ich mit anderen kooperieren muß – ob ich will oder nicht –, muß ich Rücksichten nehmen und muß Vereinbarungen treffen, die auch die Interessen der anderen Seite berücksichtigen.


Sighard Neckel (* 25. Oktober 1956 in Gifhorn) ist ein deutscher Soziologe. Seit dem Wintersemester 2011/12 ist er Professor für Soziologie der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Zugleich ist er Mitglied der Leitung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main. [Wikipedia]

siehe auch:
WDR 5: Das philosophische Radio – Sendungsübersicht (WDR 5, undatiert)
Sighard Neckel: „Refeudalisierung": Aktualität und Systematik eines Begriffs der Habermas'schen Gesellschaftsanalyse (Andrea Reisinger, Philosophische Audiothek, 18.04.2018)
- Refeudalisierung der Ökonomie: Zum Strukturwandel kapitalistischer Wirtschaft (Sighard Neckel, MPlFG Working Paper 10/6, Max-Planck-Gesellschaft, Juli 2010 – PDF)
- Prof. Dr. Sighard Neckel, Publikationen (Uni Hamburg, WiSo-Fakultät)

Der Gefühlshaushalt des Kapitalismus. Geldgier als Strukturprinzip? {46:38}

Normative Orders
Am 23.02.2018 veröffentlicht 
Frankfurter Stadtgespräch XVI
Prof. Ute Frevert (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung) im Gespräch mit Prof. Sighard Neckel (Exzellenzcluster "Die Herausbildung normativer Ordnungen")
Moderation: Rebecca Caroline Schmidt (Geschäftsführerin des Exzellenzclusters "Die Herausbildung normativer Ordnungen")
Ob zum Zweck seiner Erklärung oder zur Rechtfertigung: Im Kapitalismus wird zumeist die Rationalität und Sachlichkeit wirtschaftlichen Handelns behauptet. Die allgegenwärtige Rede von Gier oder der Notwendigkeit von Vertrauen in Märkte scheint hingegen die Zentralität nicht-rationaler Motive nahzezulegen. Auch stellt sich in Zeiten zunehmender Burnouts die Frage, wie die Gefühlswelt der Menschen durch den Kapitalismus geformt wird. Setzt die Rationalität des Kapitalismus also nicht notwendig emotionale Antriebe wie Geldgier voraus? Auf welche Weise verändert der Kapitalismus den Gefühlshauhalt des modernen Menschen? Über dieses Thema werden im XVI. Frankfurter Stadtgespräch Ute Frevert, Emotionsforscherin und Direktorin des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin und Sighard Neckel, Professor für Soziologie an der Goethe-Universität und Principal Investigator des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“, diskutieren.
Veranstalter:
Exzellenzcluster "Die Herausbildung normativer Ordnungen" in Kooperation mit dem Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main
Mehr Informationen zu den Frankfurter Stadtgesprächen:
http://www.normativeorders.net/de/ver...

Hamburger Horizonte 2017: »Zerfall … – und jetzt? Ein Schlusswort« von Prof. Dr. Sighard Neckel {12:49}

Körber-Stiftung
Am 23.02.2018 veröffentlicht 
In seinem Schlusswort erörtert Prof. Dr. Sighard Neckel, Sozialwissenschaftler an der Universität Hamburg, die Konferenzergebnisse zum Zerfall von Ordnungen und gibt einen Ausblick auf den Übergang zu neuen Ordnungen.

Leistung, die sich lohnt?- Das Versprechen der Chancengerechtigkeit {2:11:40 – Start bei 3:53}

Heinrich-Böll-Stiftung
Am 26.06.2012 veröffentlicht 
Keynote:
Prof. Sighard Neckel, Goethe-Universität, Frankfurt a. M.
Diskussion mit...
Dr. Mehmet Gürcan Daimagüler, Rechtsanwalt und Autor von „Kein schönes Land in dieser Zeit", Berlin Brigitte Mergenthaler-Walter, Studienleitung Schule Schloss Salem
Moderation:
Andrea Dernbach, Journalistin/Der Tagesspiegel, Berlin
Das Leistungsprinzip ist ein zentrales Element der sozialen Integration moderner Gesellschaften. Mit ihm wandte sich das Bürgertum einst gegen die Vorherrschaft des Adels. Wo ständisch begründete Herkunftsrechte den gesellschaftlichen Status bestimmten, sollte das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit entscheiden. Das Leistungsprinzip entsprach den Interessen des aufstrebenden Bürgertums.
Wie ist es heute um die Wirklichkeit des Leistungsprinzips in Deutschland bestellt? Wessen Interessen lassen sich daran knüpfen? Wie steht es um seine Legitimität?
Zwei Gruppen haben weiterhin großes Interesse mit dem Leistungsprinzip: neben Frauen auch Männer und Frauen mit Migrationsbiographie. Unter Berufung auf das Leistungsprinzip streiten sie gegen Ungleichbehandlung und Diskriminierung. Zugleich wird die Legitimität des Leistungsprinzips auch in Frage gestellt. In Zeiten, in denen sich das Transfereinkommen des Staates nur gering von einem niedrigen Erwerbseinkommen unterscheidet, verlieren viele Menschen den Glauben an das Leistungsprinzip. Zwei von drei Deutschen sind der Meinung, dass sich Leistung in Deutschland nicht mehr lohnt, so ein Ergebnis einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung vom November 2011. Knapp 70 Prozent der Befragten sind davon überzeugt, dass nicht alle Menschen die gleichen Chancen haben, erfolgreich zu sein. Und ein wachsender Teil verabschiedet sich vom Leistungsprinzip, indem er auf andere Formen der gesellschaftlichen Anerkennung wie den (schnellen und oftmals spektakulären) Erfolg oder den Rückhalt in der Peergroup setzt.
Zu den Menschen, die nach wie vor auf Leistung als Mittel ihres sozialen Aufstiegs und gesellschaftlicher Anerkennung setzen, gehören heute besonders Menschen mit Migrationsgeschichte mit guten Schul- und Hochschulabschlüssen. Sie haben im Bildungssystem auf das Versprechen der Leistungsgerechtigkeit vertraut und müssen nun auf dem Weg in den qualifizierten Arbeitsmarkt vielfach feststellen, dass viele Aufstiegschancen gar nicht nach Leistung verteilt werden. Sie scheitern entweder ganz oder werden unter ihrem Qualifizierungsniveau beschäftigt.
aktualisiert am 11.08.2019

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