Sonntag, 7. September 2014

Für eine Kultur der Integrität


Es gibt im Film »Last Samurai« mit Tom Cruise die Szene, in der die Samurai gegen die mit Maschinengewehren ausgestatteten Truppen des Kaisers anreiten. [Youtube-Link] Diese Szene symbolisiert die Veränderung einer Gesellschaft – und ihrer Werte – durch technischen Fortschritt. Einen Aspekt in der untergehenden Welt der Samurai möchte ich hervorheben: den der Geistesschulung. Nach Deutschlands faschistischer Vergangenheit hat dieses Wort heutzutage keinen guten Klang: es hört sich nach Gehirnwäsche an. Wenn schon: Wer lehnt saubere Fenster ab?
Captain Nathan Algren, gespielt von Tom Cruise, ein in den amerikanischen Indianerkriegen völlig frustrierter, desillusionierter, desorientierter, depressiver und lebensmüder Offizier, findet als Gefangener in dem Dorf der Samurai etwas, was ihm wieder so etwas wie Sinn in seinem Leben verspricht: die Integrität dieser Menschen. In dem kompromisslosen Eintreten für ihre Überzeugungen, ihrer Verlässlichkeit und Geradlinigkeit fühlt er eine kulturübergreifende Geistesverwandtschaft, die seine Verlorenheit, seine Schuldgefühle und seine Einsamkeit beendet.
In der erwähnten Filmszene begegnen sich zwei Gesellschafts-Qualitäten, wobei die der Geistesschulung gegen die des technologischen Fortschritts keine Chance hat. Das Kurbeln am Maschinengewehr macht eine Geistesschulung überflüssig.
In dem von vorneherein zum Scheitern verurteilten Anrennen gegen eine technologisch überlegene Armee bildet sich die gleiche ergreifende Bereitschaft ab, für seine Überzeugungen mit seinem Leben einzutreten, die wir bei Martin Luther finden.

Am 17. April 1521 stand Luther vor dem Reichstag zu Worms, wurde vor den versammelten Fürsten und Reichsständen verhört und letztmals zum Widerruf aufgefordert. Nach einem Tag Bedenkzeit und im Wissen, dass dies seinen Tod bedeuten könne, lehnte er mit folgender Begründung ab [Wikipedia]:
Belegt sind folgende Worte:
"Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde; denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, daß sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!" [Luther.de]

Ulrich Wickert drückte es in seiner Würdigung Peter Scholl-Latours ein wenig weniger großartig aus:
 »Er war ein Mann. Er war ein Mann des Geistes, ein Mann, der ganz klar für das stand, was er sagte. Kritik war ihm immer gleichgültig.«

Ich möchte einen weiteren Film erwähnen: »Matrix«. Ich sehe in dem Film folgende philosophische Aussage: Wir Menschen leben in einem System, welches uns – ähnlich wie Batterien – zur Energieversorgung verwendet. Die vom Matrix-System erzeugte Computersimulation für Realität haltend reagieren wir mit Emotionen – und virtuellen Handlungen –, die Matrix mit Energie versorgen.

Als ich in der Pubertät war, gab es kein Internet. Es gab einen Brockhaus. Es gab Journalisten wie Peter Scholl-Latour oder Tiziano Terzani. Es gab Zeitungsherausgeber wie Rudolf Augstein, die gewillt waren, für Ihre Ansichten ins Gefängnis zu gehen. Es gab Tabu-Brüche, die begeisterten: wie zum Beispiel der von Fritz Teufel, der, beim Hereinkommen des Richters aufgefordert, aufzustehen, zum Besten gab: »Wenn's der Wahrheitsfindung dient…«

Mit dem Bestreben der SPD, die Anzahl der Abiturienten zu erhöhen, begann die Verlotterung unserer Gesellschaft (ich habe mir lange überlegt, ob ich dieses Wort verwenden soll): als ob sich die Gesamtintelligenz einer Gesellschaft durch die Erhöhung der Studentenzahl herauffahren ließe. Diskussionsfähigkeit wurde höher bewertet als Handschrift, Rechtschreibung oder Kopfrechnen. Als ob eine Tapete wichtiger wäre als das Fundament…

US-Amerika machte zu dieser Zeit einige unangenehme Erfahrungen: kritische Journalisten konnten die Handlungsfähigkeit der Regierung einschränken, Whistleblower – das Wort gab es damals noch nicht – konnten Präsidenten zu Fall bringen (Pentagon Papers, Watergate). Die Machthaber reagierten: transatlantische Think Tanks entstanden, im Irak-Krieg waren die Journalisten, die sich im Vietnamkrieg noch frei bewegen konnten, »embedded«. Während Regimekritiker in der Sowjetunion ins Gefängnis wanderten, nach Sibirien abgeschoben, ausgewiesen oder einfach ermordet wurden, wurden westliche Journalisten zu Diskussionsrunden, Fortbildungsveranstaltungen oder Lesungen eingeladen und bekamen Hotels und das Essen bezahlt: wesentlich eleganter! Es ist attraktiv, dazu zu gehören!

Mit den Grenzen des Wachstums, zunehmender Staatsverschuldung und aufstrebenden Schwellenländern konfrontiert, begann das kapitalistische System [sprich: die energiehungrige Matrix] seine Grenzen zu spüren. Die auf den Markt drängenden Privatsender erhöhten ihre Zuschauerzahlen durch das Angebot vorverdauter oder verdauungsunabhängiger zerebraler Astronautenkost. In der Ära Kohl wurde die Anpassung der Sozialsysteme verschlafen, Schröder flickte diese notdürftig, mit den ersten Grünen an der Regierung schlitterte die Bundesrepublik Deutschland in ihren ersten und wenig später in ihren zweiten Krieg. Letzerer durfte aufgrund der Political Correctness – dieses Wort gab es in meiner Pubertät auch noch nicht – aber nicht so genannt werden. Die Beliebtheit des pomadisierten Adeligen, der die Dinge beim Namen nannte, stieg in ungeahnte Höhen, bis ihn sein erschlichener Doktortitel zu Fall brachte. Angela Merkel erfand die Alternativlosigkeit, schaffte es, politische Entscheidungsfindungsprozesse aus dem Rampenlicht zu entfernen und machte sich die Parfümisierung unserer Sprache zu Nutze: die Wehrpflicht wurde nicht abgeschafft – was eine Grundgesetzänderung erfordert hätte – sie wurde »ausgesetzt«. So entstand die doppelte Realität, die wir aus den Zeiten von staatlich verordneten Fünfjahresplänen und Jubel-Aufmärschen im gegnerischen Polit-System kennengelernt haben. Ein weiteres Beispiel für die institutionalisierte doppelte Realität ist die elektronische Gesundheitskarte, deren Auflagen für die vorgeschriebene Sicherheitsarchitektur die Krankenkassen nicht nachkamen, ihnen dies aber vom Bundesministerium für Gesundheit bescheinigt wurde. (Elektronische Gesundheitskarte rechtswidrig, 13.03.2014)

Politische Richtungsentscheidungen, so haben unsere Politiker inzwischen gelernt, sind der Karriere unzuträglich und werden durch Karussells ersetzt: aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg aus der Atomkraft wird so oft ausgestiegen, bis jede weitere Entscheidung als Kontinuität verkauft werden kann. Egal, ob es sich um die politische oder die journalistische Welt handelt: Verkaufszahlen sind inzwischen wichtiger geworden als Überzeugungen. Aufgeregtheiten lassen sich besser verkaufen als Klarheit, Pornos haben halt einen größeren Absatzmarkt als der Brockhaus, den es inzwischen noch nicht einmal mehr digital gibt. Das scheinbar demokratische Wikipedia – mit jeder Menge Mobbing hinter den Kulissen – hat dieser alt-ehrwürdigen Institution den Rang abgelaufen.

Der demokratische Absolutismus ist auf dem Vormarsch: Alles für das Volk, aber nichts durch das Volk. Bis hierher – so habe ich mir selber oft gesagt – lässt sich mein Klagen als Zeichen eines nicht akzeptierten Alterungsprozesses abtun.
Die Ukraine-Krise hat aber eine Besonderheit zu Tage gebracht: die Beliebigkeit und erschreckend kurze Halbwertszeit der im Gleichschritt unserer Leitmedien vorgebrachten aufgeregten propagandistisch gefärbten Meldungen. Das Geplärre emotional instabiler ukrainischer Politiker wird unreflektiert und ungefiltert von NATO-Offiziellen, transatlantischen Politikern und unseren Leitmedien übernommen. Vorverurteilungen sind an der Tagesordnung.

Ich habe den Übelkeit erregenden Verdacht, dass die Anzahl derjenigen Menschen in der politisch-journalistischen Öffentlichkeit rapide abnimmt, denen an ihrer Glaubwürdigkeit und ihrem Ruf gelegen ist. Man erinnere sich: Ben Bradlee verantwortete als Chefredakteur der Washingtons Post die Recherchen der beiden jungen Journalisten Bob Woodward und Carl Bernstein, die den Watergate-Skandal aufdeckten sowie deren Veröffentlichung. Man erinnere sich: Daniel Ellsberg, bedroht von 115 Jahren Haft, brachte die Pentagon-Papiere in die Medien, der damalige Herausgeber der New York Times, A. M. Rosenthal, riskierte deren Veröffentlichung, der oberste Gerichtshof der USA fällte ein Grundsatzurteil und ließ dies zu. Das nenne ich Gewaltenteilung! Angeregt durch diese Vorfälle brachte das Church-Komitee viele illegale und und unethische Aktivitäten der UA-amerikanischen Geheimdienste ans Licht. Das nenne ich Demokratie!

In der Laudatio von Ulrich Wickert zum 85. Geburtstag von Peter Scholl-Latour in der Bild-Zeitung ist zu lesen:

Peter Scholl-Latour steht seinen Mann. Und das macht einen großen Teil seiner Stärke aus. Denn heute stehen nur noch wenige Männer „ihren Mann“. Weder im Journalismus noch in der Politik. Kurz, selten in der Gesellschaft finden wir solch ausgeprägte Identitäten, nach denen wir uns richten können.

Wo finden wir Männer, nach denen wir uns richten können? Wo finden wir noch nicht berentete Politiker, die kurz nach Lancieren einer Aufgeregtheits-Meldung und den damit verbundenen Schuldzuweisungen »STOP!« sagen? Wann wird bei Waffenlieferungen über einen Zeitraum nachgedacht, der über fünf Jahre hinausgeht? Welcher Herausgeber oder Chefredakteur lebt seine Angst (und Scham), seine Berichte könnten ihm nach zwei Wochen um die Ohren gehauen werden? Wo ist der Programm-Verantwortliche, der hinter seinen Journalisten steht, statt sie zu zwingen, mit anderen ins gleiche Horn zu blasen? Wo ist der Politiker (siehe die Reden von Wladimir Putin 2001 vor dem Deutschen Bundestag und 2007 vor der Münchner Sicherheitskonferenz), der seinem Gegner zuzuhören und ihn zu verstehen gewillt ist? Wo sind die Menschen, die in der Öffentlichkeit wirken, den es wichtiger ist, morgens beim Rasieren in den Spiegel sehen zu können als die eigene Karriere zu pushen? Wo sind Ethik und persönliche Integrität wichtiger als kurzfristiger Vorteil und materieller (oder Macht-) Gewinn?

Welcher Politiker ist dazu in der Lage Scham oder Peinlichkeit zu empfinden und sein Handeln danach auszurichten? Wer weigert sich, mit den Wölfen zu heulen?
 Ulrich Wickert über Scholl-Latour:
Er ist er, weil er unabhängig ist. Und stets war. Er lässt sich niemandem zurechnen und hängt von niemandem ab. Er steht nicht für die ARD oder das ZDF.  Wenn überhaupt, dann für die Kultur der Öffentlich-Rechtlichen. Und seine Statur wächst aus seinem Werk, statt aus einem Netzwerk, wie es heute leider gang und gäbe ist. Wo Redakteure – selbst gegensätzlicher Printprodukte – sich auf gemeinsame Linien absprechen und sich gegenseitig Gefallen tun, statt einen fruchtbaren oder auch, was gar nicht falsch wäre, einen furchtbaren Meinungsstreit zu führen.

Das Handeln unserer Politiker und unserer Leitmedien im Ukraine-Konflikt ist peinlich und erscheint weitestgehend frei von kritischer Selbstbetrachtung! Und anscheinend kümmert es niemanden, wie kurzlebig die vorgebrachten Lügen und Anschuldigungen sind. Was geht in den Köpfen von Menschen vor, die öffentlich lügen, wissend, daß ihre Behauptungen innerhalb weniger Wochen entlarvt werden?
Ich kann nur hoffen, dass dies Konsequenzen haben wird! Denn das Verlottern von ethischen Handlungsmaßstäben bei Menschen, die einen Staat regieren oder die Öffentlichkeit informieren hat sehr unangenehme Konsequenzen sowohl für als auch bei den Menschen, die in diesem Staat leben. Die Vermutung mag vermessen klingen: Könnte es sein, daß es genau um diesen Werteverlust geht, der den IS antreibt? Könnte es sein, daß der IS gegen das Vordringen einer Geisteswelt ankämpft, die materiellen Überfluß anbietet, dafür aber die gesamte Welt ausbeutet und außer Gier keinerlei geistige Richtschnur im Gepäck hat?

In einer Gesellschaft, in der der Preis für persönliche Lauterkeit inakzeptabel hoch wird, wo vorausschauendes Denken und Handeln hinter kurzfristigem Vorteil zurücktreten, wo vorgegebene Handlungslinien immer kürzere Halbwertszeit haben, wo Tugenden zu Luxus degenerieren, wo immer mehr Menschen wie Vieh behandelt werden, da steht Chaos vor der Tür. Wehe uns, wenn wir Tugenden propagieren, sie aber selbst mit Füßen treten! Eine neue Kultur der Integrität ist angesagt!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen