Sonntag, 14. Juni 2015

Verdachtsberichterstattung: Journalisten im Konflikt zwischen Schnelligkeit und Sorgfaltspflicht

Trotz der teils massiven Kritik am Verhalten der deutschen Medien in den Fällen Wulff, Kachelmann und Edathy - die große Mehrheit der Journalisten beachtet hierzulande die presserechtlichen Grenzen der Verdachtsberichterstattung. „Das Wort Lügenpresse würde ich nicht gebrauchen, vor allem weil es eine unangebrachte Pauschalisierung wäre. Die meisten Journalisten arbeiten sorgfältig“, sagte der Rechtsanwalt Carsten Brennecke, dessen Kanzlei Jörg Kachelmann vertritt, am Freitag in der Auftaktdebatte der Fachkonferenz von Netzwerk Recherche (nr) zum Thema Presserecht im Mediencampus Villa Ida.

Nur in Einzelfällen würden presserechtliche Vorgaben verletzt, etwa wenn der Gegenseite keine Chance zur Stellungnahme eingeräumt werde. Im Fall von Jörg Kachelmann habe es beispielweise viel zu wenige Pressenanfragen gegeben. „Wir hätten uns gefreut, wenn man uns häufiger die Chance zur Stellungnahme gegeben hätte“, sagte Brennecke an seinen Kollegen Christian Mensching gerichtet, der mit seiner Kanzlei im Fall von Alt-Bundespräsident Christian Wulff hunderte Fragen von Journalisten beantworten musste und diese später gesammelt veröffentlichte.

Beide Anwälte hielten sich überraschenderweise mit Medienkritik zurück. Christian Mensching richtete lediglich den Appell an die Teilnehmer, die presserechtlichen Bestimmungen zur Verdachtsberichterstattung nicht einseitig als Hürde zu betrachten: „Journalisten sollten die Regeln nicht als Zwangsjacke empfinden, sondern als notwendig für die Einhaltung der Sorgfaltspflicht.“ Über Ermittlungsverfahren darf nur berichtet werden, wenn es um schwerwiegende Verfehlungen geht, ein Mindestmaß an bekannten Beweismitteln vorliegt und die Gegenseite angehört wird. Sind diese Bedingungen erfüllt, muss immer noch zwischen dem öffentlichen Interesse und den Persönlichkeitsrecht des Betroffenen abgewogen werden.

Leyendecker zu Wulff, Kachelmann und Edathy: „Allen ist Unrecht widerfahren“
Kritik am Verhalten der Medien kam bei den Affären um Wulff, Kachelmann und Edathy hingegen ausgerechnet von Seiten eines Journalisten. „Glorreich habe wir uns in keinem der drei Fälle verhalten. Allen drei Betroffenen ist auf irgendeine Weise Unrecht widerfahren“, sagte der populäre Investigativ-Journalist Hans Leyendecker von der „Süddeutschen Zeitung“. Im Fall Wulff vermisse er im Nachhinein die Selbstkritik der Medien. Am Ende sei es juristisch nur noch um etwas mehr als 700 Euro gegangen. Ein Grund für die mediale Aufgeregtheit sei das erhöhte Tempo, in dem heute berichtet werde. Viele Medien versuchten, irgendwie vorne mit dabei zu sein – auf Kosten der Sorgfalt.

Von diesem Druck berichtete Sarah Tacke vom ZDF aus praktischer Erfahrung. Vom Fall Edathy erfuhr die Redakteurin um 9 Uhr morgens, nachdem die Nienburger Zeitung „Die Harke“ Fotos von der Hausdurchsuchung beim Bundestagsabgeordneten veröffentlicht hatte. Bereits um 11 Uhr stand Tacke für die erste Schalte vor der Kamera. „Da habe ich schon geschwitzt. Mir war klar: Wenn das nicht stimmt, ist das eine Katastrophe für uns alle.“ In der kurzen Frist habe sie die Fakten jedoch ausreichend überprüfen und auch schon erste weitere Informationen selbst recherchieren können. Dass das Presserecht gerade von jüngeren Journalisten, die nur die Bedingungen der digitalen Medienwelt kennen, nicht ausreichend beachtet werde, wies die 32-Jährige zurück: 


„Gerade unerfahrene Kollegen sind besonders vorsichtig. Vielleicht auch aus dem egoistischen Motiv heraus, nachts gut schlafen zu können.“
mehr:
- Verdachtsberichterstattung: Journalisten im Konflikt zwischen Schnelligkeit und Sorgfaltspflicht (Leipzig School of Media, 20.03.2015)

siehe auch:
- Journalismus nur für Privilegierte? – Hans Leyendecker beim MAZ-Recherchetag in Luzern (Knut Kuckel, Journalisten bloggen, 08.02.2015)
Zitat:
Leser würden immer mehr mit dieser Einstellung an Geschichten gehen: überall Übeltäter und Schufte. Und es werde immer schwieriger, Leute zu finden, die etwas lesen, sehen oder hören wollen, das ihre Vorurteile widerlegen könnte. Dass die Journalisten ihrerseits dieses Spiel mitmachen, liegt laut Leyendecker an der Eitelkeit der Medienbranche.
- Journalismus nur für Privilegierte? – Ideale muss man sich erst leisten können (Carmen Epp, Medienwoche.ch, 06.02.2015)


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