Montag, 19. Oktober 2015

Tunesien im Müll: Eine Demokratie aus Scherben und Orangenschalen

Plastiktüten auf den Baumkronen, Flaschen an den Straßenrändern, Gift in den Flüssen: Tunesien wird seiner Abfälle nicht mehr Herr. Das Müllproblem zeigt, wie zerbrechlich die Demokratiebewegung ist, die gerade mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Das Land ist geprägt vom alten System
Tunis – Morched Garbouj fährt ein Rennen gegen die Zeit und steckt fest. Vorgebeugt, fast auf dem Lenkrad liegend, sitzt er am Steuer, als könnte er so schneller die Mülldeponie erreichen. Er trommelt mit den Fingern gegen das schwarze Leder. „Fahrt schon, fahrt schon“, flüstert er. Doch es geht kaum voran. Die Fahrzeuge schieben sich langsam über die nasse Stadtautobahn. Über Stunden hat es vormittags geregnet. Viele Straßen stehen unter Wasser. Inzwischen hängen helle Wolken über Tunesiens Hauptstadt und Morched Garbouj weiß, wenn es jetzt nicht schnell geht, wird jemand Zeit haben, die Spuren zu vertuschen. Giftiges Wasser ist durch den Regen aus der Mülldeponie ausgetreten. Für Garbouj der Beleg dafür, dass Tunesiens Demokratie ein Leck hat.

Morched Garbouj, 47, ist 2012 von Kanada nach Tunesien gezogen. Der arabische Frühling hat ihn nach fast 30 Jahren zurückgeholt. Der Ingenieur arbeitet nun als Unternehmensberater und kämpft ehrenamtlich gegen Tunesiens Abfallberge. Dafür hat er eine Nicht-Regierungsorganisation (NGO) gegründet: SOS Biaa – ein Notruf für die Natur. Knapp 30 Ingenieure, Biologen und Anwälte engagieren sich hier. Sie messen, erheben Daten, wie katastrophal Tunesiens Mülldeponien für die Umwelt und die Gesundheit der Anwohner sind.

Dabei geht es um mehr als nur ein sauberes Tunesien. Garbouj ist wie viele Tunesier zurückgekehrt, um eine neue Demokratie mitzugestalten. Um weiterzuführen, was am 17. Dezember 2010 begann, als der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi sich aus Protest gegen staatliche Repressionen anzündete. Um fortzusetzen, was seit dem Sturz des Staatsoberhauptes Ben Ali in Tunesien entstand: Das Ein-Parteien-System ist abgeschafft; Dutzende neue Parteien wurden gegründet. Zum ersten Mal konnten Tunesier das Parlament und ihren Präsidenten frei wählen. Mit mehr als 90 Prozent Zustimmung beschloss das Parlament eine neue Verfassung, in der erstmals in diesem Land Meinungs- und Versammlungsfreiheit garantiert wird. Mehr als 5000 NGOs haben sich gegründet. Ohne Gewalt zu fürchten, frei vom Druck, mit den Herrschenden kooperieren zu müssen.

mehr:
- Tunesien im Müll: Eine Demokratie aus Scherben und Orangenschalen (Bettina Malter, Cicero, 13.10.2015)

Der arabische Frühling: Tunesien, Ägypten, Libyen, Bahrain, Jemen, Syrien {2:08}


Hochgeladen am 25.08.2011
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