Nach dem Abschuss der russischen SU-24 durch die Türkei hat Präsident Putin der türkischen Regierung unter Präsident Erdogan eine gezielte Islamisierung des Landes vorgeworfen. Als ob die AKP-Regierung, die bei den Wahlen die absolute Mehrheit errungen hat, dies bestätigen wollte, wurde jetzt bekannt, dass der Rat für wissenschaftliche und technische Forschung der Türkei (TÜBITAK) in diesem Jahr mehr als 50.000 Bücher aus Buchhandlungen eingezogen hat. Seit letztem Jahr kann die Behörde wissenschaftliche Populärliteratur prüfen.
Überprüft werden soll, ob die Kinderbücher den Vorstellungen der Regierung über die Vermittlung der richtigen Kultur und Lebensweise gehorchen. Sie sollen, wie Hürriyet berichtet, die "lokalen Werte und die lokale Kultur widerspiegeln". Bücher, die der Regierung nicht gefallen, werden nicht nur zensiert, sondern auch gleich vernichtet.
mehr:
- Türkische Regierung beginnt, Kinderbücher zu zensieren (Florian Rötzer, Telepolis, 27.11.2015)
mein Kommentar:
Die ernüchternde Erkenntnis, die ich in meiner beruflichen Arbeit gewonnen habe, ist, daß die Erkenntnisprozesse, für die sich Patienten öffnen, von dem Bedürfnis nach Schutz ihrer Identität bestimmt sind – eigentlich eine platte Selbstverständlichkeit. Paartherapien laufen da gegen die Wand, wo jeder vom anderen verstanden werden will, das Verstehen des Einen gleichzeitig aber für den Anderen den Verlust bzw. eine massive Beschädigung der eigenen Identät bedeutet.
Am Beispiel des gesellschaftlichen Umgangs mit Homosexualität im deutschen Sprachraum wird deutlich, daß diese für die Identität großer Teile der Bevölkerung eine Gefahr darstellte. Im 1870 dem Reichstag des Norddeutschen Bundes vorgelegten, vom Bundesrat beschlossenen, Entwurf eines Strafgesetzbuches begründet Bismarck die Strafbarkeit gleichgeschlechtlicher Handlungen unter Männern mit der Rücksicht auf die öffentliche Meinung:
»[…] das Rechtsbewußtsein im Volke beurtheilt diese Handlungen nicht blos als Laster, sondern als Verbrechen, und der Gesetzgeber wird billig Bedenken tragen müssen, diesen Rechtsanschauungen entgegen Handlungen für straffrei zu erklären, die in der öffentlichen Meinung als strafwürdige gelten.« ($ 175, Vorgeschichte, Wikipedia)mein Kommentar:
Was anderes tut Putin?
Fünf Jahre später rechtfertigte 1962 der unter Konrad Adenauer vorgelegte Regierungsentwurf eines Strafgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland[19] – entgegen dem Vorschlag der Großen Strafrechtskommission von 1959 (wo Vertreter von CDU/CSU selten anwesend waren)[20] – die Aufrechterhaltung des § 175 wie folgt:
Ausgeprägter als in anderen Bereichen hat die Rechtsordnung gegenüber der männlichen Homosexualität die Aufgabe, durch die sittenbildende Kraft des Strafgesetzes einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens zu errichten, das, wenn es um sich griffe, eine schwere Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke bedeuten würde.“[22] (Hans-Georg Stümke, Homosexuelle in Deutschland, 1989)
Homosexualität war für Psychoanalytiker noch Ende der 80er Jahre eine so schwerwiegende psychische Störung, daß Schwule nicht zur Lehranalyse bzw. zur psychoanalytischen Ausbildung zugelassen wurden.
"Wir haben aber alle ein Interesse daran, daß auch in sexuellen Dingen ein höherer Grad von Aufrichtigkeit unter den Menschen Pflicht werde, als es bis jetzt verlangt wird.
Die sexuelle Sittlichkeit kann dabei nur gewinnen. Gegenwärtig sind wir in Sachen Sexualität samt und sonders Heuchler, Kranke wie Gesunde. Es wird uns nur zugute kommen, wenn im Gefolge der allgemeinen Aufrichtigkeit ein gewisses Maß von Duldung in sexuellen Dingen zur Geltung kommt." (Sigmund Freud 1898, GW Bd. 1, S. 489ff.)
So viel man in über mehr als 100 Jahren in Psychotherapie und Psychoanalyse auch über Homosexuelle als Kranke geredet, geschrieben, geforscht hat, bisher hat man nie mit ihnen als Gleichberechtigten gesprochen, keinen Dialog mit ihnen geführt. […]
Daß sich Psychotherapien unterschiedlichster Ausrichtung der gesellschaftlichen Verfolgung und Diffamierung homosexueller Männer angeschlossen haben, gehört zu den dunkelsten Kapiteln unserer Disziplinen. […]
4) Hat die psychoanalytische 1 Fragestellung, ob Homosexuelle gesund oder krank, neurotisch oder gar präödipal gestört sind, überhaupt eine außeranalytische Relevanz?
5) Müssen die vorgeblich wissenschaftlichen psychoanalytischen Theorien zur Homosexualität des Mannes als Dispositive der Macht, als Mittel der Propaganda entlarvt werden? […]
Wenige Psychoanalytiker teilen Freuds Unvoreingenommenheit gegenüber einer praktizierten Homosexualität des Mannes, in neuester Zeit u. a. der späte Morgenthaler (1984), Isay (1990), Friedman (1988). Die Mehrzahl der Psychoanalytiker von Sadger (1921) über Socarides (1971) bis Kernberg (1985) arbeitet an der Verfolgung und Eliminierung von Homosexualität. Was ich von der Psychoanalyse sage, gilt auch für einige andere tiefenpsychologisch-psychotherapeutische Schulen. C. G. Jung hat in der Theorie von der Homosexualität erklärt: "Ihre Auffassung als pathologische Perversion (sei, E. K.) fragwürdig" (1983, S. 86), in der Praxis – wie etwa gegenüber Magnus Hirschfeld – war er von einer rüden Antihomosexualität. Alfred Adler (1917), Wilhelm Reich (1933, 1936), Erich Fromm (1972), Alexander Lowen (1980) haben männliche Homosexualität bekämpft. […]
Andere Psychotherapieformen sind offener und geben homosexuellen Männern die Chance, sich als befähigte Therapeuten zu erweisen. Ich kenne erfolgreiche und einfühlsame schwule Gestalt- und Körpertherapeuten, Bioenergetiker, Atem- und Kunsttherapeuten. Von verschwindenden Ausnahmen abgesehen kann jedoch bis heute niemand seiner Identität und Neigung entsprechend zugleich die Lebensform offener Homosexualität und den Beruf des Psychoanalytikers wählen. Nehmen wir Erdheims (1994) Gedanken auf, die in seinem Beitrag aufwirft, dann ist zu sagen, daß Psychotherapie und Psychoanalyse die Politik auch im Behandlungsraum installierten, als sie Homosexualität zu einer zu behandelnden Störung erklärten. Nach Erdheim ist Kranksein in unserem Kulturbereich eine "Einübung in Unterwerfung" und Krankheit "eine Einübung in die Identifikation mit der Herrschaft". […]
Heterosexuelle arbeiten, leben mit Homosexuellen, ohne sie wahrzunehmen und für "wahr" zu nehmen. Durch unzählige Hinweise in Frage gestellt, wird als Glaubensgewißheit dennoch aufrechterhalten: Schwule sind obskure Einzelgänger, haben einen fragwürdigen Charakter, leben ein ungezügeltes Sexualleben und frönen perversen Sexualpraktiken. Ich möchte darauf hinweisen, daß solche Vorurteile, solche Borniertheit, nicht das Vorrecht von Laien sind, sie werden auch von vielen Seelenkundlern geteilt. […]
Noch im vergangenen Jahr belehrte uns Kernberg (1992a) aufs neue, daß zwar eine Paarbeziehung erst mit Einschluß aller polymorph-perversen infantilen Neigungen lebendig wird, daß eine "wirkliche" Paarbeziehung aber nur die einer in vielen Schritten zur Vollendung reifenden "wirklichen Ehe" ist. (Erhard Künzler, Lebensformen der männlichen, gleichgeschlechtlichen Liebe, Lindauer Texte 1994)
siehe auch:
- Wieso wir Angst vor dem Fremden haben (Dörte Hinrichs, Tagungsbericht, Freiburger Arbeitskreis Literatur & Psychoanalyse)
Nach so vielen Quellen: Es geht mir nicht um Homosexualität sondern um das Bedürfnis, die eigene Identität zu schützen. Jede Gesellschaft, jeder Staat, jedes System überhaupt benötigt eine Identität und schützt sie. Dazu scheint nun einmal die Ausgrenzung oder sogar Verfolgung von Menschen mit anderer Sexualität zu gehören, dazu scheint nun einmal – ob es uns gefällt oder nicht – die Ausgrenzung oder sogar Verfolgung von Menschen anderer Überzeugungen zu gehören. Und wenn ein System – egal welches – seine Identität infrage gestellt sieht, ergreift es Maßnahmen, dieselbe zu schützen. Dazu gehört, egal ob in der Türkei oder in Deutschland – das Verbannen von mißliebiger Literatur.
Da kann man – sei es als politisch oder als psychotherapeutisch Denkender – nur schulterzuckend zusehen…
Die Frage, die offen bleibt: Muß das so sein?
- Wieso wir Angst vor dem Fremden haben (Dörte Hinrichs, Tagungsbericht, Freiburger Arbeitskreis Literatur & Psychoanalyse)
Nach so vielen Quellen: Es geht mir nicht um Homosexualität sondern um das Bedürfnis, die eigene Identität zu schützen. Jede Gesellschaft, jeder Staat, jedes System überhaupt benötigt eine Identität und schützt sie. Dazu scheint nun einmal die Ausgrenzung oder sogar Verfolgung von Menschen mit anderer Sexualität zu gehören, dazu scheint nun einmal – ob es uns gefällt oder nicht – die Ausgrenzung oder sogar Verfolgung von Menschen anderer Überzeugungen zu gehören. Und wenn ein System – egal welches – seine Identität infrage gestellt sieht, ergreift es Maßnahmen, dieselbe zu schützen. Dazu gehört, egal ob in der Türkei oder in Deutschland – das Verbannen von mißliebiger Literatur.
Da kann man – sei es als politisch oder als psychotherapeutisch Denkender – nur schulterzuckend zusehen…
Die Frage, die offen bleibt: Muß das so sein?
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