W I R in Amerika – und im Westen – leben in Zeiten einer furchtbaren Krise, die größtenteils hausgemacht ist. Sie begann mit dem Grauen des 11. September und wurde durch das nachfolgende Grauen der Regierung Bush vertieft und verschärft. Während ich dies schreibe, Anfang August, hat mein Präsident noch keinen Bomben- und Raketenangriff auf die Mullahs im Iran befohlen, doch die Durchführung dieses Angriffs ist, wie er glaubt, seine Bestimmung – um Amerika und die freie Welt vor einem Iran zu schützen, der, wie er glaubt, einmal mit Atomwaffen und der nötigen Technik ausgerüstet sein wird, um diese in New York, Washington und anderen amerikanischen Großstädten zur Detonation zu bringen. Daß es keinerlei Erkenntnisse gibt, die seinen Glauben stützen, spielt keine Rolle. Wir werden abwarten müssen, ob er tut, was er seiner Ansicht nach tun muß, oder ob er dadurch gebremst wird, daß sehr wenige Menschen in Washington – sowie unter den Republikanern im Kongreß und vielen Spitzenmilitärs im Pentagon – der Ansicht sind, dies wäre selbstmörderisch und könnte den Westen in einen weltweiten Krieg gegen die Schiiten stürzen.
Seit dem 11. September habe ich in meiner Arbeit für den New Yorker über kein anderes Thema berichtet, und man wird wohl bemerkt haben, daß ich – mehr als die meisten Journalisten – Zugang zu bestimmten inneren Abläufen in der Regierung Bush habe. Zu den Vorzügen, schon lange im Geschäft zu sein, gehört, daß ich langjährige berufliche Beziehungen zu zahlreichen höheren Beamten der amerikanischen Geheimdienste und der Armee unterhalte – manche pensioniert, manche noch aktiv –, die mit dem Weißen Haus und dem Nationalen Sicherheitsrat zu tun haben. Und dennoch habe ich keine Ahnung, was George Bush weiß oder woran er glaubt. Hat er den Irak aus tiefem Glauben an den Wert der Demokratie überfallen, wie er wiederholt festgestellt hat, oder aus persönlicher religiöser Berufung; war es sein Wunsch, die Sicherheit Israels zu gewährleisten, oder, den amerikanischen Zugang zum Öl im Mittleren Osten zu sichern; tat er es, weil sein Vater sich 1992, am Ende des Ersten Golfkriegs, gegen einen Einmarsch in Bagdad und den Sturz Saddams entschieden hatte?
Ich kann Ihnen nicht erzählen, ich hätte eine Antwort auf diese Frage oder auch nur eine plausible Vermutung. Ebensowenig habe ich eine Ahnung, ob George Bush an den großen Entscheidungen, die getroffen worden sind, überhaupt persönlich beteiligt war. Der gesunde Menschenverstand würde nahelegen, daß dies der Fall ist, doch hat mein Präsident seinem Vizepräsidenten Dick Cheney derart außerordentliche Machtbefugnisse – und politischen Einfluß übertragen, daß wir alle auf Vermutungen angewiesen sind. Geht das heutige Chaos auf Cheney zurück, oder hat Bush es mit außerordentlicher Schläue so gedreht, daß wir uns alle auf Cheney – als Amerikas Bösewicht – konzentrieren und dem Eindruck verfallen, er, Bush, habe mit der ganzen Sache nichts zu tun? Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich an eine sehr witzige Fernsehsendung vor vielen Jahren, als Ronald Reagan, der ehemalige B-Movie-Schauspieler, noch Präsident war. Reagan wurde in dem Sketch als der Trottel dargestellt, für den ihn viele von uns hielten. Die Szene begann damit, daß er im Oval Office eine Gruppe junger Studenten empfing und sein übliches liebenswürdiges und nichtssagendes Geplauder abließ. Als die Studenten weg waren, rief ein plötzlich dynamischer Reagan seine nationalen Sicherheitsberater zu sich, trat an eine Bürowand und drückte einen Knopf, worauf die Wand zurückfuhr und eine detaillierte und streng geheime Karte der Sowjetunion freigab. Sodann wies ein klarer und präziser Reagan, der auf einmal richtiges Englisch wie auch fließend Russisch sprach, seine Berater an, eine Geheimmission in Rußland vorzubereiten.
Damals war das lustig, heute ist es unheimlich. Weiß Bush, was er mit dem Angriff auf den Irak und seinem zähen Beharren, die Demokratie müsse in alle Staaten des Nahen und Mittleren Ostens getragen werden, angerichtet hat? Ist das angerichtete Chaos das Ergebnis, das Bush und seine neokonservativen Berater von Anfang an wollten? Für viele im Weißen Haus ist das Chaos durchaus hinnehmbar. Vor einigen Jahren erzählte mir der Außenminister eines bedeutenden europäischen Verbündeten der USA bei einem privaten Mittagessen, für ihn sei Paul Wolfowitz, damals stellvertretender Verteidigungsminister, der perfekte Trotzkist, weil Wolfowitz offenkundig, genau wie Trotzki, an die permanente Revolution glaube. (Dieser Außenminister kostete mich später ganz schön Nerven, weil er mir untersagte, diese Äußerung im New Yorker zu zitieren, auch nicht anonym, da nur er – wie er sagte – über die Bildung verfüge, einen solchen Vergleich zu ziehen, weswegen jeder wüßte, von wem er stamme, würde er nun namentlich zitiert oder nicht.)
KING GEORGE
Eines aber ist unbestritten: Präsident Bush hat viele der grundlegenden gesetzlichen und verfassungsmäßigen Beschränkungen seiner Macht demoliert und uns allen vor Augen geführt, wie fragil die amerikanische Demokratie ist. Keine der Institutionen, die uns vor einer tyrannischen Exekutive schützen sollten, hat funktioniert. Der Kongreß, während der ersten sechs Jahre von Bushs Präsidentschaft von den Republikanern beherrscht, hat vollkommen darin versagt, seinen verfassungsgemäßen Auftrag wahrzunehmen, und hat die Aufsicht über das politische und militärische Handeln des Weißen Hauses vernachlässigt. Die Armeeführung wandte sich nicht gegen die irrationale Entscheidung des Präsidenten, den Kampf gegen Osama Bin Laden in den säkularen Irak zu tragen – vielmehr wurden viele hochrangige Offiziere zu öffentlichen Cheerleadern für King Georges Wahnsinn. Auch die Millionen in der Bundesverwaltung Beschäftigten wurden zum Schweigen gebracht und berichteten den zuständigen Kongreßausschüssen oder der Presse lieber nichts davon, was wirklich geschah.
Für mich als einem, der es sein ganzes Leben für die Aufgabe eines Journalisten gehalten hat, bei Staatsbeamten die höchsten Maßstäbe anzulegen, ist das Versagen der amerikanischen Presse am bedrückendsten. Die großen Zeitungen und Fernsehsender ließen sich nach dem 11. September von Bush einschüchtern und verpaßten so das wichtigste moralische Thema des Jahrzehnts – wie der Präsident und seine Lakaien logen und die geheimdienstlichen Erkenntnisse verzerrten, um uns im März 2003 in den Krieg gegen den Irak zu treiben. Es mangelte nicht an Wissen – ich arbeitete die ganzen siebziger Jahre hindurch für die New York Times in Washington –, und meine ehemaligen Kollegen machten mir in Gesprächen deutlich, daß sie erkannt hätten, wie sehr das Weiße Haus sie habe täuschen wollen, doch solche Ansichten gelangten 2002 und 2003 kaum je ins Blatt. Ich weiß nicht genau, wieviel davon Selbstzensur war – ob Reporter von dem von der Regierung Bush propagierten Krieg gegen den Terror eingeschüchtert waren – oder inwieweit das Versagen in der Verantwortung der Redakteure lag. Meiner Schätzung nach könnten wir neunzig Prozent der Zeitungsredakteure in Amerika feuern und sofort damit anfangen, ein besseres Produkt herzustellen. Eine gute Insider-Geschichte über die Rolle der Presse dabei, daß Bush sich täglich die Unterstützung durch Zeitungen und Fernsehen für den Krieg im Irak versichern konnte, steht noch aus und ist dringend erforderlich.
Ob es auch einmal eine gute Geschichte der inneren Abläufe der Präsidentschaft Bushs geben wird? Ich bin mir nicht so sicher. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, Bush oder Cheney hätten die Wege zu ihren Entscheidungen sorgfältig protokolliert. Solche Aufzeichnungen dürften ohnehin ein Relikt aus einer transparenteren Vergangenheit sein. Ich erinnere mich an ein Frühstück letztes Jahr mit einem US-General, der kurz zuvor von einer ausgedehnten Inspektionsreise durch Afghanistan zurückgekehrt war. Er hatte den Auftrag, für einen der Spitzenmilitärs in Washington einen Bericht zu erstellen, und seine Erkenntnisse machten, wie er mir sagte, deutlich, daß die USA und ihre Verbündeten dort die größten Schwierigkeiten mit den Taliban hatten. Ich fragte den General, den ich schon über ein Dutzend Jahre kannte, wann er denn die Zeit gefunden habe, seinen Bericht zu schreiben. „Einen Bericht schreiben, Sy?“ antwortete er stirnrunzelnd und zuckte die Achseln. „Warum einen Bericht? Ich halte nichts vom Schreiben. Ich hab’ das einfach mündlich vorgetragen.“ Mich beschleicht die Ahnung, daß künftige Historiker in den Archiven dieser Regierung nur sehr wenige historisch bedeutsame Dokumente finden werden.
Ich brauche hier nicht zu sagen, wie schlecht es um mein Land bestellt ist oder wie die großen Mächte des Westens – und ich spreche insbesondere von Großbritannien – darin versagt haben, Washington zu zügeln. Auch Deutschland und Frankreich haben sich wie England von dem amerikanischen Schmierentheater begrenzter Diskussionen und angedrohter Wirtschaftssanktionen gegen den Iran wegen des vermuteten Forschungsprogramms Teherans für Nuklearwaffen blenden lassen. Zu keinem Zeitpunkt beharrte einer unserer Verbündeten öffentlich darauf, die Regierung Bush solle sich der logischsten Lösung dieser Kontroverse zuwenden: bilaterale Gespräche zwischen Washington und Teheran. Vielleicht das Verblüffendste an dieser Präsidentschaft ist die Leichtigkeit, mit der George Bush es geschafft hat, sich jeder bedeutsamen Kritik an seiner Weigerung zu entziehen, mit den Regierungen zu sprechen, die er mißbilligt. Ein starkes Stück, wenn man es sich mal überlegt.
Der Präsident der mächtigsten Nation der Welt – mit den meisten Bombern und den meisten Atomwaffen – weigert sich, mit den Regierungschefs zu sprechen, die er nicht mag. Er spricht nicht mit den Iranern, nicht mit den Syrern, nicht mit der Hamas oder der Hisbollah, und jahrelang hat er auch nicht mit den Nordkoreanern gesprochen. Und nur wenige beschweren sich darüber. Ich habe keinen Schimmer, wo das noch hinführen soll. Wird es einen großen Krieg im Nahen und Mittleren Osten geben, in dem die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten im Westen sowie die sogenannten moderaten sunnitischen Staaten des Nahen Ostens Jordanien, Ägypten, Saudi-Arabien und die Golfstaaten – gegen den Iran, Syrien, die Hisbollah und die verschiedenen schiitischen Gruppierungen auf der ganzen Welt kämpfen? Wird der Grundwiderspruch der amerikanischen Position im Irak – wir unterstützen dort nominell eine Regierung, die von mit dem Iran verbündeten Schiiten geführt wird – in einem Krieg auf Leben und Tod mit zahlreichen sunnitischen Milizen enden? Der amerikanische Widerspruch, das wird mit jedem Monat klarer, besteht darin, mit verschiedenen sunnitischen Stämmen und Milizen heimlich Frieden zu schließen und damit die schiitische Regierung zu schwächen, die während der letzten Jahre in Wahlen, die Präsident Bush und seine Lakaien beharrlich als frei und demokratisch bezeichnen, mit großem Getöse gewählt und in ihr Amt eingesetzt wurde. Das Dilemma im Irak ist grotesk, tödlich und verhindert eine friedliche Lösung.
Ich möchte daher nicht mehr über das Offensichtliche und die offensichtliche Lösung für den Krieg im Irak sprechen. (Meiner Ansicht nach gibt es nur zwei Optionen für die Beendigung des Krieges. Option A: Holt alle bis heute um Mitternacht heraus, und Option B: Holt alle bis morgen um Mitternacht heraus.) Vielmehr möchte ich etwas zu dem anderen Preis sagen, jenem, den meine amerikanischen Mitbürger zahlen, die man in diesen schmutzigen Krieg geschickt hat, so wie zuvor schon in andere schmutzige Kriege. Und bitte verstehen Sie mich richtig: Ich gehe nicht über die Hunderttausende unschuldiger irakischer Zivilisten hinweg, die von den Bomben und Gewehren der Aufständischen und der Amerikaner ermordet, verwundet und vertrieben worden sind. Aber es gibt einen Preis, den man nicht auf Anhieb erkennt und den diejenigen bezahlen müssen, die das Töten und Verstümmeln besorgen. Im Krieg gibt es keinen Sieger – keinen.
MY LAI
Meine journalistische Karriere zeichnet sich durch zwei bedeutsame Geschichten aus: Im Spätherbst 1969 schrieb ich als freier Journalist in Washington eine Serie von fünf Zeitungsartikeln über ein amerikanisches Massaker in einem Dorf namens My Lai 4 in Südvietnam. Diese Artikel trugen mir Ruhm, Reichtum, Ehre und eine Menge Auszeichnungen ein, unter anderem den Pulitzer-Preis. Und 2004 schrieb ich innerhalb von drei Wochen drei Berichte für den New Yorker – an sich schon eine reife Leistung, angesichts des rigorosen Prüf- und Bearbeitungsstandards der Zeitschrift – über Folter und Mißbrauch irakischer Häftlinge in Abu Ghraib, dem berüchtigten Gefängnis aus Saddams Zeit, ein paar Kilometer außerhalb Bagdads. Der letzte warf die Frage auf, wer ganz oben für die Folter verantwortlich sei; eine Frage, auf die seinerzeit niemand in Amerika gefaßt war – und heute anscheinend auch nicht.
Ich hatte mit der Veröffentlichung meines Materials über My Lai – wo am Morgen des 16. März 1968 über 550 vietnamesische Frauen, Kinder und alte Männer von einer Kompanie unerfahrener amerikanischer GIs abgeschlachtet wurden – begonnen, als mir ein Soldat, der dabei war, die Geschichte von Paul Meadlo erzählte. Meadlo war ein siebzehnjähriger Bauernjunge aus Südindiana, der sich freiwillig gemeldet hatte. Er durchlief die Grundausbildung und wurde dann mit seiner Einheit, der Charley Company von der Americal Division, Ende 1967 in den Dschungel Südvietnams geschickt. Während der folgenden dreieinhalb Monate zogen er und seine Kameraden durch die Reisfelder und den Dschungel des Südens, immer auf der Suche nach Vietcong. Nie trafen sie auf den Feind; statt dessen wurden sie von Heckenschützen, Sprengladungen und Minen zusehends zermürbt ähnlich wie heute im Irak. Einen uniformierten Feind, gegen den man kämpfen konnte, gab es nicht, nur mysteriöse Killer, die zuschlugen, sich zurückzogen und die Zivilisten der Gegend der Wut und Rache der Amerikaner überließen.
Mitte März 1968 hatte die Charley Company schon über ein Dutzend Männer verloren, ohne auch nur einen Vietcong oder uniformierten nordvietnamesischen Soldaten gesehen zu haben oder in etwas wie ein Feuergefecht geraten zu sein. Am Abend des 15. März teilte man ihnen mit, sie würden gleich am nächsten Morgen mit dem Hubschrauber zu einem Dorf – My Lai 4 – geflogen, wo laut Geheimdienstinformationen ein Bataillon harter nordvietnamesischer Kämpfer liege. Am Abend machten die Jungs das, was amerikanische Jungs damals so machten – sie rauchten ein paar Joints –, während die Offiziere und älteren der gemeinen Soldaten sich betranken. Am nächsten Morgen bestiegen sie die Helis und donnerten in das Dorf, bereit zu töten oder getötet zu werden. Kein Feind. Nur Hunderte alter Männer, Frauen und Kinder, die gerade Frühstück machten. Und nun geschah das Unerklärliche; vielleicht geschah es auch nur einfach so: Die amerikanischen Soldaten trieben die Zivilisten in drei große Gräben und machten sich daran, sie mit Salven aus ihren M 1 zu exekutieren. Viele Soldaten machten nicht mit oh ja, sie schossen, aber darüber oder vorbei. Paul Meadlo tat, was sein Leutnant, William Calley (der als Symbol des Massakers bekannt wurde, obwohl er nur einer von vielen Offizieren vor Ort war), ihm befahl. Meadlo feuerte ein Magazin nach dem andern auf die entsetzten Vietnamesen, die in den Gräben kauerten, und hielt nur inne, um neu zu laden. Irgendwann wurde es still. Die Amerikaner machten inmitten des Gemetzels Mittagspause, saßen zwischen den Toten und aßen ihre Rationen. Etwas später hörten sie ein Wimmern, dann kroch ein kleiner Junge, vielleicht zwei, drei Jahre alt, aus dem Graben heraus, voll mit dem Blut anderer. Seine Mutter hatte ihn unter ihren Körper geschoben und die Kugeln abgefangen, die für ihn bestimmt waren. Er erreichte den Grabenrand, stieß einen Schrei aus, den keiner je wieder hören wollte, und rannte vor den Amerikanern davon. Leutnant Galley zeigte auf Meadlo und sagte: „Knall ihn ab.“ Doch Meadlo schaffte bei einem kleinen Jungen nicht, was bei einer amorphen Masse ging. Voller Verachtung rannte Galley selbst hinter dem Kind her und schoß es mit seinem Gewehr in den Hinterkopf. Was für ein starker Mann.
Am nächsten Morgen ging die Charley Company nahe My Lai auf Patrouille, als Paul Meadlo auf eine Mine trat, die ihm das rechte Bein bis zum Knie wegriß. Ein Hubschrauber wurde angefordert, um ihn zu evakuieren, und während er und die Kompanie warteten, rief Meadlo immer wieder aus, und es wurde bald zu einem Fluch, der Calley galt: „Gott hat mich bestraft, Leutnant Calley, und Gott wird auch Sie bestrafen. Gott hat mich bestraft, Leutnant Calley, und Gott wird auch Sie bestrafen.“ Die Soldaten flehten, daß der Hubschrauber endlich kommen und sie von ihm befreien möge. Ich hatte die ersten beiden Artikel über My Lai im November 1969 geschrieben, ohne von Paul Meadlo gehört zu haben – dann aber, anderthalb Jahre später, hatten viele Soldaten ihre Dienstzeit bei der Armee beendet und waren nach Hause zurückgekehrt. Es war, wie ich später schloß, eine verdrängte Geschichte. Schließlich fragte mich ein GI, ob ich von Meadlo und seinem kaputten Bein gehört hätte und wie er Calley verflucht habe. Ich wußte, daß er in Indiana lebte, und ich hatte einen Anhaltspunkt: Meadlo, M-E-A-D-L-O, war kein gewöhnlicher Name. Ich fand Meadlo, wie abzusehen war, in einem Telefonbuch in Indiana – nachdem ich endlose Stunden mit vielen Vermittlungen im ganzen Staat telefoniert hatte. Seine Mutter nahm den Hörer ab. Sie lebten, wie sich herausstellte, noch immer auf einer Farm bei New Goshen, eine sehr ländliche Gegend nahe dem Ohio River. Ich sagte Mrs. Meadlo, ich wolle gern ihren Sohn sprechen. Sie war zurückhaltend, sagte aber nichts, als ich meinte, ich würde am nächsten Tag kommen. Ich hatte von Salt Lake City aus angerufen und flog noch in der Nacht – über Chicago und Indianapolis, Indiana –, um mittags auf der Farm zu sein. Es war eine heruntergekommene Hühnerfarm – offensichtlich war kein Mann im Haus. Die Hühner liefen überall herum, und das Haus selbst, es war aus Holz, wirkte nicht eben stabil. Ich stieg aus meinem Mietwagen aus. Mrs. Meadlo, die vielleicht fünfzig war, aber erheblich älter aussah, kam mir entgegen. „Ich möchte mit Ihrem Sohn sprechen“, sagte ich. Sie zeigte auf das Haus und sagte, sie wisse nicht, ob er mit mir sprechen wolle, ich könne es aber gern versuchen. Dann zögerte diese ungebildete, einfache Frau aus dem südlichen Indiana und sagte mit ungeheurer Bitterkeit: „Ich habe einen guten Jungen gegeben, und man hat mir einen Mörder zurückgeschickt.“
ABU GHRAIB
35 Jahre später. Ich habe meinen ersten Abu-Ghraib-Artikel im New Yorker veröffentlicht und werde im öffentlichen Rundfunk interviewt. Es ist eine Anrufsendung, und eine Anruferin sagt mir, sie wisse von einem Mädchen, das in der Einheit in Abu Ghraib gewesen sei, von der die Greuel begangen worden seien, und niemand in den Medien habe auf ihre entsprechenden Anrufe reagiert. Noch am Mikrophon bitte ich sie, sich Stift und Papier zu holen, nenne ihr dann meine private Büronummer und bitte sie, mich anzurufen. Zu Recht nahm ich an, daß die meisten Hörer entweder im Auto saßen oder anderweitig beschäftigt waren und sich die Nummer nicht merken konnten. Während der nächsten Tage erhielt ich nur einige wenige Anrufe, darunter aber den jener Frau. Wir verabredeten uns zum Lunch in einem Schnellrestaurant irgendwo im Nordosten Amerikas. Natürlich hatte ich großes Interesse, mit einer Soldatin zu sprechen, die in Abu Ghraib gewesen war. Beim Lunch erzählte mir die Frau, nachdem sie Vertrauen gefaßt hatte, folgendes: Die fragliche Soldatin gehörte einer Reserveeinheit der Armee an, eine Wochenendkämpferin also, die sich freiwillig gemeldet hatte, um ein wenig Geld für Schule, Kleider und dergleichen dazuzuverdienen. Sie war sehr hübsch und frisch verheiratet, als ihre Einheit einige Monate nach Ausbruch des Krieges 2003 mobilisiert und in den Irak geschickt wurde. Sie und ihre Kameraden waren hauptsächlich als Militärpolizisten ausgebildet, MPs, wie wir das nennen, und hatten vor allem gelernt, den Verkehr zu regeln. Im Irak jedoch wurden sie als Wärter in Abu Ghraib eingesetzt und rasch – es war Frühherbst 2003 – in die bitteren Späße dort verwickelt. Ich nehme an, Sie haben alle die Photos gesehen und die Geschichten gelesen und wissen, wovon ich rede. Anfang Januar 2004 ging einer der MP-Soldaten mit einer CD voller Bilder der grauenhaften Geschehnisse zu den Behörden, und alles kam zum Stillstand. Die junge Soldatin, die mit der Folter selbst nicht unmittelbar zu tun hatte, wurde einige Monate später, im März 2004, mit ihrer Einheit in die Heimat zurückverlegt. Kein Außenstehender wußte etwas von Abu Ghraib oder der Army-internen Untersuchung, die inzwischen angelaufen war. Man sagte mir, die junge Soldatin sei als anderer Mensch heimgekehrt. Sie war mürrisch, zurückgezogen, bedrückt. Sie wollte nicht mit ihrer Familie sprechen oder näher mit ihr zu tun haben, verließ schließlich auch ihren Mann und zog in eine andere nahegelegene Stadt. Ende April, als die ersten Artikel und Photos über Abu Ghraib erschienen, besuchte die Frau das Mädchen. (Ich wurde bewußt im unklaren über das Verhältnis der beiden gelassen.) Sie zeigte ihr eine Schlagzeile und fragte, ob das der Grund für ihr Verhalten sei. Worauf ihr praktisch die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde. Die junge Soldatin wollte nicht darüber sprechen.
Die Frau erinnerte sich, daß sie dem Mädchen, bevor es in den Irak ging, einen Laptop mit DVD-Laufwerk überlassen hatte. Fast jeder in den Irak verlegte GI hatte einen eigenen DVD-Player oder Computer dabei, da es im muslimischen Irak nur wenige Freizeitmöglichkeiten gab. Der Computer war bei der Frau verblieben, als die jungen Reservisten aus dem Irak zurückkehrten, und seitdem nicht mehr angerührt worden. Irgendwann benötigte die Frau, die mich angerufen hatte, einen zweiten Computer für ihr Büro. So kam es, wie sie mir sagte, daß sie den Laptop in Betrieb nahm und damit begann, Dateien zu löschen. Die Frau, die von Freud nichts weiß, beharrte darauf, ihre Entscheidung, den Computer zu durchsuchen, habe nichts mit den Berichten in den Zeitungen zu tun gehabt. Jedenfalls war eine der Dateien mit „Irak“ bezeichnet, und die Frau öffnete sie. Es erschien eine Reihe Photographien, die kein Familienangehöriger je sehen sollte. Es handelte sich um rund sechzig Digitalphotos von einem nackten irakischen Häftling, vor dem zwei knurrende Schäferhunde stehen, keinen Meter von ihm entfernt. Er stand vor Gefängnisgittern, die Hände hinter seinem Kopf – er konnte nicht einmal sein Geschlechtsteil mit den Händen schützen, wozu ihn jeder Instinkt gedrängt haben muß. Die Photos zeigen, daß einer der Hunde den Häftling schließlich an einer empfindlichen Stelle gebissen hatte und Blut geflossen war ganze Blutlachen –, und dann sah man einen Soldaten, der versuchte, ihm die Wunde mit Nadel und Faden zu vernähen. Diese Photos erhielt ich ohne Honorar – natürlich konnte der New Yorker nichts dafür bezahlen, andere aber hätten eine Menge dafür gegeben. Der Herausgeber David Remnick traf die, wie ich heute finde, sehr weise Entscheidung, nur ein ikonisches Photo des Häftlings zu veröffentlichen, wie er, die Arme hinterm Kopf, vor den schäumenden Hunden steht. Das Photo wurde weltweit reproduziert.
Ich hielt mit der Frau noch rund ein Jahr Kontakt und drängte sie, der jungen Soldatin, die sich offensichtlich in einer Krise befand, Hilfe zukommen zu lassen. Solche Fälle sind für Journalisten kompliziert, denn ich mußte die Frau auch bitten, von der Soldatin die Erlaubnis zur Veröffentlichung der Photos einzuholen, und diese Entscheidung mußte unabhängig und ohne jede Beeinflussung durch mich getroffen werden. Das klingt kompliziert und ist es auch. Jedenfalls waren die Frau und ich ungefähr ein Jahr danach wieder zusammen essen, vielleicht telefonierten wir auch nur, und da sagte sie mir etwas, was ich damals noch nicht gewußt hatte. Die junge Soldatin, die nach ihrer Rückkehr aus dem Irak ihr Haus, ihre Freunde und ihren Mann verlassen hatte, hatte sich auch jedes Wochenende tätowieren lassen. Ihr ganzer Körper war mittlerweile bis zum Hals mit großen schwarzen und blauen Tätowierungen überzogen. Es war, als wollte sie, wie die Frau sagte, „die Haut wechseln“.
Wir in Amerika beginnen erst allmählich zu verstehen, wie hoch der soziale und emotionale Preis des Einsatzes im Irak für unsere Soldaten ist. Im Lauf der nächsten Jahrzehnte werden wir mehr verstehen.
Seit dem 11. September habe ich in meiner Arbeit für den New Yorker über kein anderes Thema berichtet, und man wird wohl bemerkt haben, daß ich – mehr als die meisten Journalisten – Zugang zu bestimmten inneren Abläufen in der Regierung Bush habe. Zu den Vorzügen, schon lange im Geschäft zu sein, gehört, daß ich langjährige berufliche Beziehungen zu zahlreichen höheren Beamten der amerikanischen Geheimdienste und der Armee unterhalte – manche pensioniert, manche noch aktiv –, die mit dem Weißen Haus und dem Nationalen Sicherheitsrat zu tun haben. Und dennoch habe ich keine Ahnung, was George Bush weiß oder woran er glaubt. Hat er den Irak aus tiefem Glauben an den Wert der Demokratie überfallen, wie er wiederholt festgestellt hat, oder aus persönlicher religiöser Berufung; war es sein Wunsch, die Sicherheit Israels zu gewährleisten, oder, den amerikanischen Zugang zum Öl im Mittleren Osten zu sichern; tat er es, weil sein Vater sich 1992, am Ende des Ersten Golfkriegs, gegen einen Einmarsch in Bagdad und den Sturz Saddams entschieden hatte?
Ich kann Ihnen nicht erzählen, ich hätte eine Antwort auf diese Frage oder auch nur eine plausible Vermutung. Ebensowenig habe ich eine Ahnung, ob George Bush an den großen Entscheidungen, die getroffen worden sind, überhaupt persönlich beteiligt war. Der gesunde Menschenverstand würde nahelegen, daß dies der Fall ist, doch hat mein Präsident seinem Vizepräsidenten Dick Cheney derart außerordentliche Machtbefugnisse – und politischen Einfluß übertragen, daß wir alle auf Vermutungen angewiesen sind. Geht das heutige Chaos auf Cheney zurück, oder hat Bush es mit außerordentlicher Schläue so gedreht, daß wir uns alle auf Cheney – als Amerikas Bösewicht – konzentrieren und dem Eindruck verfallen, er, Bush, habe mit der ganzen Sache nichts zu tun? Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich an eine sehr witzige Fernsehsendung vor vielen Jahren, als Ronald Reagan, der ehemalige B-Movie-Schauspieler, noch Präsident war. Reagan wurde in dem Sketch als der Trottel dargestellt, für den ihn viele von uns hielten. Die Szene begann damit, daß er im Oval Office eine Gruppe junger Studenten empfing und sein übliches liebenswürdiges und nichtssagendes Geplauder abließ. Als die Studenten weg waren, rief ein plötzlich dynamischer Reagan seine nationalen Sicherheitsberater zu sich, trat an eine Bürowand und drückte einen Knopf, worauf die Wand zurückfuhr und eine detaillierte und streng geheime Karte der Sowjetunion freigab. Sodann wies ein klarer und präziser Reagan, der auf einmal richtiges Englisch wie auch fließend Russisch sprach, seine Berater an, eine Geheimmission in Rußland vorzubereiten.
Damals war das lustig, heute ist es unheimlich. Weiß Bush, was er mit dem Angriff auf den Irak und seinem zähen Beharren, die Demokratie müsse in alle Staaten des Nahen und Mittleren Ostens getragen werden, angerichtet hat? Ist das angerichtete Chaos das Ergebnis, das Bush und seine neokonservativen Berater von Anfang an wollten? Für viele im Weißen Haus ist das Chaos durchaus hinnehmbar. Vor einigen Jahren erzählte mir der Außenminister eines bedeutenden europäischen Verbündeten der USA bei einem privaten Mittagessen, für ihn sei Paul Wolfowitz, damals stellvertretender Verteidigungsminister, der perfekte Trotzkist, weil Wolfowitz offenkundig, genau wie Trotzki, an die permanente Revolution glaube. (Dieser Außenminister kostete mich später ganz schön Nerven, weil er mir untersagte, diese Äußerung im New Yorker zu zitieren, auch nicht anonym, da nur er – wie er sagte – über die Bildung verfüge, einen solchen Vergleich zu ziehen, weswegen jeder wüßte, von wem er stamme, würde er nun namentlich zitiert oder nicht.)
KING GEORGE
Eines aber ist unbestritten: Präsident Bush hat viele der grundlegenden gesetzlichen und verfassungsmäßigen Beschränkungen seiner Macht demoliert und uns allen vor Augen geführt, wie fragil die amerikanische Demokratie ist. Keine der Institutionen, die uns vor einer tyrannischen Exekutive schützen sollten, hat funktioniert. Der Kongreß, während der ersten sechs Jahre von Bushs Präsidentschaft von den Republikanern beherrscht, hat vollkommen darin versagt, seinen verfassungsgemäßen Auftrag wahrzunehmen, und hat die Aufsicht über das politische und militärische Handeln des Weißen Hauses vernachlässigt. Die Armeeführung wandte sich nicht gegen die irrationale Entscheidung des Präsidenten, den Kampf gegen Osama Bin Laden in den säkularen Irak zu tragen – vielmehr wurden viele hochrangige Offiziere zu öffentlichen Cheerleadern für King Georges Wahnsinn. Auch die Millionen in der Bundesverwaltung Beschäftigten wurden zum Schweigen gebracht und berichteten den zuständigen Kongreßausschüssen oder der Presse lieber nichts davon, was wirklich geschah.
Für mich als einem, der es sein ganzes Leben für die Aufgabe eines Journalisten gehalten hat, bei Staatsbeamten die höchsten Maßstäbe anzulegen, ist das Versagen der amerikanischen Presse am bedrückendsten. Die großen Zeitungen und Fernsehsender ließen sich nach dem 11. September von Bush einschüchtern und verpaßten so das wichtigste moralische Thema des Jahrzehnts – wie der Präsident und seine Lakaien logen und die geheimdienstlichen Erkenntnisse verzerrten, um uns im März 2003 in den Krieg gegen den Irak zu treiben. Es mangelte nicht an Wissen – ich arbeitete die ganzen siebziger Jahre hindurch für die New York Times in Washington –, und meine ehemaligen Kollegen machten mir in Gesprächen deutlich, daß sie erkannt hätten, wie sehr das Weiße Haus sie habe täuschen wollen, doch solche Ansichten gelangten 2002 und 2003 kaum je ins Blatt. Ich weiß nicht genau, wieviel davon Selbstzensur war – ob Reporter von dem von der Regierung Bush propagierten Krieg gegen den Terror eingeschüchtert waren – oder inwieweit das Versagen in der Verantwortung der Redakteure lag. Meiner Schätzung nach könnten wir neunzig Prozent der Zeitungsredakteure in Amerika feuern und sofort damit anfangen, ein besseres Produkt herzustellen. Eine gute Insider-Geschichte über die Rolle der Presse dabei, daß Bush sich täglich die Unterstützung durch Zeitungen und Fernsehen für den Krieg im Irak versichern konnte, steht noch aus und ist dringend erforderlich.
Ob es auch einmal eine gute Geschichte der inneren Abläufe der Präsidentschaft Bushs geben wird? Ich bin mir nicht so sicher. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, Bush oder Cheney hätten die Wege zu ihren Entscheidungen sorgfältig protokolliert. Solche Aufzeichnungen dürften ohnehin ein Relikt aus einer transparenteren Vergangenheit sein. Ich erinnere mich an ein Frühstück letztes Jahr mit einem US-General, der kurz zuvor von einer ausgedehnten Inspektionsreise durch Afghanistan zurückgekehrt war. Er hatte den Auftrag, für einen der Spitzenmilitärs in Washington einen Bericht zu erstellen, und seine Erkenntnisse machten, wie er mir sagte, deutlich, daß die USA und ihre Verbündeten dort die größten Schwierigkeiten mit den Taliban hatten. Ich fragte den General, den ich schon über ein Dutzend Jahre kannte, wann er denn die Zeit gefunden habe, seinen Bericht zu schreiben. „Einen Bericht schreiben, Sy?“ antwortete er stirnrunzelnd und zuckte die Achseln. „Warum einen Bericht? Ich halte nichts vom Schreiben. Ich hab’ das einfach mündlich vorgetragen.“ Mich beschleicht die Ahnung, daß künftige Historiker in den Archiven dieser Regierung nur sehr wenige historisch bedeutsame Dokumente finden werden.
Ich brauche hier nicht zu sagen, wie schlecht es um mein Land bestellt ist oder wie die großen Mächte des Westens – und ich spreche insbesondere von Großbritannien – darin versagt haben, Washington zu zügeln. Auch Deutschland und Frankreich haben sich wie England von dem amerikanischen Schmierentheater begrenzter Diskussionen und angedrohter Wirtschaftssanktionen gegen den Iran wegen des vermuteten Forschungsprogramms Teherans für Nuklearwaffen blenden lassen. Zu keinem Zeitpunkt beharrte einer unserer Verbündeten öffentlich darauf, die Regierung Bush solle sich der logischsten Lösung dieser Kontroverse zuwenden: bilaterale Gespräche zwischen Washington und Teheran. Vielleicht das Verblüffendste an dieser Präsidentschaft ist die Leichtigkeit, mit der George Bush es geschafft hat, sich jeder bedeutsamen Kritik an seiner Weigerung zu entziehen, mit den Regierungen zu sprechen, die er mißbilligt. Ein starkes Stück, wenn man es sich mal überlegt.
Der Präsident der mächtigsten Nation der Welt – mit den meisten Bombern und den meisten Atomwaffen – weigert sich, mit den Regierungschefs zu sprechen, die er nicht mag. Er spricht nicht mit den Iranern, nicht mit den Syrern, nicht mit der Hamas oder der Hisbollah, und jahrelang hat er auch nicht mit den Nordkoreanern gesprochen. Und nur wenige beschweren sich darüber. Ich habe keinen Schimmer, wo das noch hinführen soll. Wird es einen großen Krieg im Nahen und Mittleren Osten geben, in dem die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten im Westen sowie die sogenannten moderaten sunnitischen Staaten des Nahen Ostens Jordanien, Ägypten, Saudi-Arabien und die Golfstaaten – gegen den Iran, Syrien, die Hisbollah und die verschiedenen schiitischen Gruppierungen auf der ganzen Welt kämpfen? Wird der Grundwiderspruch der amerikanischen Position im Irak – wir unterstützen dort nominell eine Regierung, die von mit dem Iran verbündeten Schiiten geführt wird – in einem Krieg auf Leben und Tod mit zahlreichen sunnitischen Milizen enden? Der amerikanische Widerspruch, das wird mit jedem Monat klarer, besteht darin, mit verschiedenen sunnitischen Stämmen und Milizen heimlich Frieden zu schließen und damit die schiitische Regierung zu schwächen, die während der letzten Jahre in Wahlen, die Präsident Bush und seine Lakaien beharrlich als frei und demokratisch bezeichnen, mit großem Getöse gewählt und in ihr Amt eingesetzt wurde. Das Dilemma im Irak ist grotesk, tödlich und verhindert eine friedliche Lösung.
Ich möchte daher nicht mehr über das Offensichtliche und die offensichtliche Lösung für den Krieg im Irak sprechen. (Meiner Ansicht nach gibt es nur zwei Optionen für die Beendigung des Krieges. Option A: Holt alle bis heute um Mitternacht heraus, und Option B: Holt alle bis morgen um Mitternacht heraus.) Vielmehr möchte ich etwas zu dem anderen Preis sagen, jenem, den meine amerikanischen Mitbürger zahlen, die man in diesen schmutzigen Krieg geschickt hat, so wie zuvor schon in andere schmutzige Kriege. Und bitte verstehen Sie mich richtig: Ich gehe nicht über die Hunderttausende unschuldiger irakischer Zivilisten hinweg, die von den Bomben und Gewehren der Aufständischen und der Amerikaner ermordet, verwundet und vertrieben worden sind. Aber es gibt einen Preis, den man nicht auf Anhieb erkennt und den diejenigen bezahlen müssen, die das Töten und Verstümmeln besorgen. Im Krieg gibt es keinen Sieger – keinen.
MY LAI
Meine journalistische Karriere zeichnet sich durch zwei bedeutsame Geschichten aus: Im Spätherbst 1969 schrieb ich als freier Journalist in Washington eine Serie von fünf Zeitungsartikeln über ein amerikanisches Massaker in einem Dorf namens My Lai 4 in Südvietnam. Diese Artikel trugen mir Ruhm, Reichtum, Ehre und eine Menge Auszeichnungen ein, unter anderem den Pulitzer-Preis. Und 2004 schrieb ich innerhalb von drei Wochen drei Berichte für den New Yorker – an sich schon eine reife Leistung, angesichts des rigorosen Prüf- und Bearbeitungsstandards der Zeitschrift – über Folter und Mißbrauch irakischer Häftlinge in Abu Ghraib, dem berüchtigten Gefängnis aus Saddams Zeit, ein paar Kilometer außerhalb Bagdads. Der letzte warf die Frage auf, wer ganz oben für die Folter verantwortlich sei; eine Frage, auf die seinerzeit niemand in Amerika gefaßt war – und heute anscheinend auch nicht.
Ich hatte mit der Veröffentlichung meines Materials über My Lai – wo am Morgen des 16. März 1968 über 550 vietnamesische Frauen, Kinder und alte Männer von einer Kompanie unerfahrener amerikanischer GIs abgeschlachtet wurden – begonnen, als mir ein Soldat, der dabei war, die Geschichte von Paul Meadlo erzählte. Meadlo war ein siebzehnjähriger Bauernjunge aus Südindiana, der sich freiwillig gemeldet hatte. Er durchlief die Grundausbildung und wurde dann mit seiner Einheit, der Charley Company von der Americal Division, Ende 1967 in den Dschungel Südvietnams geschickt. Während der folgenden dreieinhalb Monate zogen er und seine Kameraden durch die Reisfelder und den Dschungel des Südens, immer auf der Suche nach Vietcong. Nie trafen sie auf den Feind; statt dessen wurden sie von Heckenschützen, Sprengladungen und Minen zusehends zermürbt ähnlich wie heute im Irak. Einen uniformierten Feind, gegen den man kämpfen konnte, gab es nicht, nur mysteriöse Killer, die zuschlugen, sich zurückzogen und die Zivilisten der Gegend der Wut und Rache der Amerikaner überließen.
Mitte März 1968 hatte die Charley Company schon über ein Dutzend Männer verloren, ohne auch nur einen Vietcong oder uniformierten nordvietnamesischen Soldaten gesehen zu haben oder in etwas wie ein Feuergefecht geraten zu sein. Am Abend des 15. März teilte man ihnen mit, sie würden gleich am nächsten Morgen mit dem Hubschrauber zu einem Dorf – My Lai 4 – geflogen, wo laut Geheimdienstinformationen ein Bataillon harter nordvietnamesischer Kämpfer liege. Am Abend machten die Jungs das, was amerikanische Jungs damals so machten – sie rauchten ein paar Joints –, während die Offiziere und älteren der gemeinen Soldaten sich betranken. Am nächsten Morgen bestiegen sie die Helis und donnerten in das Dorf, bereit zu töten oder getötet zu werden. Kein Feind. Nur Hunderte alter Männer, Frauen und Kinder, die gerade Frühstück machten. Und nun geschah das Unerklärliche; vielleicht geschah es auch nur einfach so: Die amerikanischen Soldaten trieben die Zivilisten in drei große Gräben und machten sich daran, sie mit Salven aus ihren M 1 zu exekutieren. Viele Soldaten machten nicht mit oh ja, sie schossen, aber darüber oder vorbei. Paul Meadlo tat, was sein Leutnant, William Calley (der als Symbol des Massakers bekannt wurde, obwohl er nur einer von vielen Offizieren vor Ort war), ihm befahl. Meadlo feuerte ein Magazin nach dem andern auf die entsetzten Vietnamesen, die in den Gräben kauerten, und hielt nur inne, um neu zu laden. Irgendwann wurde es still. Die Amerikaner machten inmitten des Gemetzels Mittagspause, saßen zwischen den Toten und aßen ihre Rationen. Etwas später hörten sie ein Wimmern, dann kroch ein kleiner Junge, vielleicht zwei, drei Jahre alt, aus dem Graben heraus, voll mit dem Blut anderer. Seine Mutter hatte ihn unter ihren Körper geschoben und die Kugeln abgefangen, die für ihn bestimmt waren. Er erreichte den Grabenrand, stieß einen Schrei aus, den keiner je wieder hören wollte, und rannte vor den Amerikanern davon. Leutnant Galley zeigte auf Meadlo und sagte: „Knall ihn ab.“ Doch Meadlo schaffte bei einem kleinen Jungen nicht, was bei einer amorphen Masse ging. Voller Verachtung rannte Galley selbst hinter dem Kind her und schoß es mit seinem Gewehr in den Hinterkopf. Was für ein starker Mann.
Am nächsten Morgen ging die Charley Company nahe My Lai auf Patrouille, als Paul Meadlo auf eine Mine trat, die ihm das rechte Bein bis zum Knie wegriß. Ein Hubschrauber wurde angefordert, um ihn zu evakuieren, und während er und die Kompanie warteten, rief Meadlo immer wieder aus, und es wurde bald zu einem Fluch, der Calley galt: „Gott hat mich bestraft, Leutnant Calley, und Gott wird auch Sie bestrafen. Gott hat mich bestraft, Leutnant Calley, und Gott wird auch Sie bestrafen.“ Die Soldaten flehten, daß der Hubschrauber endlich kommen und sie von ihm befreien möge. Ich hatte die ersten beiden Artikel über My Lai im November 1969 geschrieben, ohne von Paul Meadlo gehört zu haben – dann aber, anderthalb Jahre später, hatten viele Soldaten ihre Dienstzeit bei der Armee beendet und waren nach Hause zurückgekehrt. Es war, wie ich später schloß, eine verdrängte Geschichte. Schließlich fragte mich ein GI, ob ich von Meadlo und seinem kaputten Bein gehört hätte und wie er Calley verflucht habe. Ich wußte, daß er in Indiana lebte, und ich hatte einen Anhaltspunkt: Meadlo, M-E-A-D-L-O, war kein gewöhnlicher Name. Ich fand Meadlo, wie abzusehen war, in einem Telefonbuch in Indiana – nachdem ich endlose Stunden mit vielen Vermittlungen im ganzen Staat telefoniert hatte. Seine Mutter nahm den Hörer ab. Sie lebten, wie sich herausstellte, noch immer auf einer Farm bei New Goshen, eine sehr ländliche Gegend nahe dem Ohio River. Ich sagte Mrs. Meadlo, ich wolle gern ihren Sohn sprechen. Sie war zurückhaltend, sagte aber nichts, als ich meinte, ich würde am nächsten Tag kommen. Ich hatte von Salt Lake City aus angerufen und flog noch in der Nacht – über Chicago und Indianapolis, Indiana –, um mittags auf der Farm zu sein. Es war eine heruntergekommene Hühnerfarm – offensichtlich war kein Mann im Haus. Die Hühner liefen überall herum, und das Haus selbst, es war aus Holz, wirkte nicht eben stabil. Ich stieg aus meinem Mietwagen aus. Mrs. Meadlo, die vielleicht fünfzig war, aber erheblich älter aussah, kam mir entgegen. „Ich möchte mit Ihrem Sohn sprechen“, sagte ich. Sie zeigte auf das Haus und sagte, sie wisse nicht, ob er mit mir sprechen wolle, ich könne es aber gern versuchen. Dann zögerte diese ungebildete, einfache Frau aus dem südlichen Indiana und sagte mit ungeheurer Bitterkeit: „Ich habe einen guten Jungen gegeben, und man hat mir einen Mörder zurückgeschickt.“
ABU GHRAIB
35 Jahre später. Ich habe meinen ersten Abu-Ghraib-Artikel im New Yorker veröffentlicht und werde im öffentlichen Rundfunk interviewt. Es ist eine Anrufsendung, und eine Anruferin sagt mir, sie wisse von einem Mädchen, das in der Einheit in Abu Ghraib gewesen sei, von der die Greuel begangen worden seien, und niemand in den Medien habe auf ihre entsprechenden Anrufe reagiert. Noch am Mikrophon bitte ich sie, sich Stift und Papier zu holen, nenne ihr dann meine private Büronummer und bitte sie, mich anzurufen. Zu Recht nahm ich an, daß die meisten Hörer entweder im Auto saßen oder anderweitig beschäftigt waren und sich die Nummer nicht merken konnten. Während der nächsten Tage erhielt ich nur einige wenige Anrufe, darunter aber den jener Frau. Wir verabredeten uns zum Lunch in einem Schnellrestaurant irgendwo im Nordosten Amerikas. Natürlich hatte ich großes Interesse, mit einer Soldatin zu sprechen, die in Abu Ghraib gewesen war. Beim Lunch erzählte mir die Frau, nachdem sie Vertrauen gefaßt hatte, folgendes: Die fragliche Soldatin gehörte einer Reserveeinheit der Armee an, eine Wochenendkämpferin also, die sich freiwillig gemeldet hatte, um ein wenig Geld für Schule, Kleider und dergleichen dazuzuverdienen. Sie war sehr hübsch und frisch verheiratet, als ihre Einheit einige Monate nach Ausbruch des Krieges 2003 mobilisiert und in den Irak geschickt wurde. Sie und ihre Kameraden waren hauptsächlich als Militärpolizisten ausgebildet, MPs, wie wir das nennen, und hatten vor allem gelernt, den Verkehr zu regeln. Im Irak jedoch wurden sie als Wärter in Abu Ghraib eingesetzt und rasch – es war Frühherbst 2003 – in die bitteren Späße dort verwickelt. Ich nehme an, Sie haben alle die Photos gesehen und die Geschichten gelesen und wissen, wovon ich rede. Anfang Januar 2004 ging einer der MP-Soldaten mit einer CD voller Bilder der grauenhaften Geschehnisse zu den Behörden, und alles kam zum Stillstand. Die junge Soldatin, die mit der Folter selbst nicht unmittelbar zu tun hatte, wurde einige Monate später, im März 2004, mit ihrer Einheit in die Heimat zurückverlegt. Kein Außenstehender wußte etwas von Abu Ghraib oder der Army-internen Untersuchung, die inzwischen angelaufen war. Man sagte mir, die junge Soldatin sei als anderer Mensch heimgekehrt. Sie war mürrisch, zurückgezogen, bedrückt. Sie wollte nicht mit ihrer Familie sprechen oder näher mit ihr zu tun haben, verließ schließlich auch ihren Mann und zog in eine andere nahegelegene Stadt. Ende April, als die ersten Artikel und Photos über Abu Ghraib erschienen, besuchte die Frau das Mädchen. (Ich wurde bewußt im unklaren über das Verhältnis der beiden gelassen.) Sie zeigte ihr eine Schlagzeile und fragte, ob das der Grund für ihr Verhalten sei. Worauf ihr praktisch die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde. Die junge Soldatin wollte nicht darüber sprechen.
Die Frau erinnerte sich, daß sie dem Mädchen, bevor es in den Irak ging, einen Laptop mit DVD-Laufwerk überlassen hatte. Fast jeder in den Irak verlegte GI hatte einen eigenen DVD-Player oder Computer dabei, da es im muslimischen Irak nur wenige Freizeitmöglichkeiten gab. Der Computer war bei der Frau verblieben, als die jungen Reservisten aus dem Irak zurückkehrten, und seitdem nicht mehr angerührt worden. Irgendwann benötigte die Frau, die mich angerufen hatte, einen zweiten Computer für ihr Büro. So kam es, wie sie mir sagte, daß sie den Laptop in Betrieb nahm und damit begann, Dateien zu löschen. Die Frau, die von Freud nichts weiß, beharrte darauf, ihre Entscheidung, den Computer zu durchsuchen, habe nichts mit den Berichten in den Zeitungen zu tun gehabt. Jedenfalls war eine der Dateien mit „Irak“ bezeichnet, und die Frau öffnete sie. Es erschien eine Reihe Photographien, die kein Familienangehöriger je sehen sollte. Es handelte sich um rund sechzig Digitalphotos von einem nackten irakischen Häftling, vor dem zwei knurrende Schäferhunde stehen, keinen Meter von ihm entfernt. Er stand vor Gefängnisgittern, die Hände hinter seinem Kopf – er konnte nicht einmal sein Geschlechtsteil mit den Händen schützen, wozu ihn jeder Instinkt gedrängt haben muß. Die Photos zeigen, daß einer der Hunde den Häftling schließlich an einer empfindlichen Stelle gebissen hatte und Blut geflossen war ganze Blutlachen –, und dann sah man einen Soldaten, der versuchte, ihm die Wunde mit Nadel und Faden zu vernähen. Diese Photos erhielt ich ohne Honorar – natürlich konnte der New Yorker nichts dafür bezahlen, andere aber hätten eine Menge dafür gegeben. Der Herausgeber David Remnick traf die, wie ich heute finde, sehr weise Entscheidung, nur ein ikonisches Photo des Häftlings zu veröffentlichen, wie er, die Arme hinterm Kopf, vor den schäumenden Hunden steht. Das Photo wurde weltweit reproduziert.
Ich hielt mit der Frau noch rund ein Jahr Kontakt und drängte sie, der jungen Soldatin, die sich offensichtlich in einer Krise befand, Hilfe zukommen zu lassen. Solche Fälle sind für Journalisten kompliziert, denn ich mußte die Frau auch bitten, von der Soldatin die Erlaubnis zur Veröffentlichung der Photos einzuholen, und diese Entscheidung mußte unabhängig und ohne jede Beeinflussung durch mich getroffen werden. Das klingt kompliziert und ist es auch. Jedenfalls waren die Frau und ich ungefähr ein Jahr danach wieder zusammen essen, vielleicht telefonierten wir auch nur, und da sagte sie mir etwas, was ich damals noch nicht gewußt hatte. Die junge Soldatin, die nach ihrer Rückkehr aus dem Irak ihr Haus, ihre Freunde und ihren Mann verlassen hatte, hatte sich auch jedes Wochenende tätowieren lassen. Ihr ganzer Körper war mittlerweile bis zum Hals mit großen schwarzen und blauen Tätowierungen überzogen. Es war, als wollte sie, wie die Frau sagte, „die Haut wechseln“.
Wir in Amerika beginnen erst allmählich zu verstehen, wie hoch der soziale und emotionale Preis des Einsatzes im Irak für unsere Soldaten ist. Im Lauf der nächsten Jahrzehnte werden wir mehr verstehen.
Groningen, 26 Oktober 2007 •
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AUS DEM ENGLISCHEN VON ElKE SCHÖNFELD
WIR DANKEN DEN VAN DER LEEUW LECTURES, GRONINGEN
WIR DANKEN DEN VAN DER LEEUW LECTURES, GRONINGEN
von Seymour M. Hersh, aus Lettre INTERNATIONAL, Nr. 80, Frühjahr 2008
„Es gab noch nie einen Präsidenten, der mich leiden konnte. Ich nehme es als Kompliment.”
Dazu paßt auch eine Meldung aus der Tagesschau über Soldatenselbstmorde:
Sie kehren aus dem Krieg zurück und bringen das Grauen mit nach Hause: Tausende US-Soldaten können mit ihren Erlebnissen im Irak nicht umgehen. Viele sehen den einzigen Ausweg im Selbstmord. Hilfe bekommen sie nun von Vietnamveteranen. Die kennen ihre Probleme.
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