Bei der Zeitschrift Öko-Test kann man sich eine PDF-Datein downloaden, die die schwersten Störfälle bei der zivilen Nutzung der Kernenergie auflistet:
1. 12. Dezember 1952 – Chalk River, Kanada
Stufe 5 – Ernster Unfall
Die partielle Kernschmelze in dem in der Nähe von Ottawa gelegenen Forschungsreaktor gilt als der erste ernste Reaktorunfall weltweit. Während eines Tests liefen mehrere Dinge falsch, vor allem bei der Besatzung: Es gab Missverständnisse, Fehleinschätzungen und Fehlbedienungen, außerdem noch falsche Statusanzeigen im Kontrollraum. Der Reaktorkern wurde beschädigt, durch eine Explosion entwich Radioaktivität in die Atmosphäre.
2. 29. September 1957 – Kyschtym, Sowjetunion
Stufe 6 – Schwerer Unfall
Bis heute ist der Atomkomplex Majak, der an der Grenze von Russland zu Kasachstan in den Bergen des Ural liegt, eine der größten Anlagen der Welt, unter anderem auch zur Wiederaufbereitung von abgebrannten Brennstäben und der Gewinnung von Plutonium. Im Zeitraum von 1950 bis heute kam es auf dem Gelände der Anlage zu acht größeren dokumentierten Stör- und Unfällen. Der folgenschwerste Unfall ereignete sich Ende September 1957, er wurde nachträglich als INES 6 eingestuft und wurde bislang nur durch den Super-GAU in Tschernobyl übertroffen. An einem Lagertank für hochaktive Spaltproduktlösungen kam es zu einer Störung des Kühlsystems. Durch einen Bedie- nungsfehler wurde das Kühlsystem daraufhin komplett ausgeschaltet. Der Tankinhalt wurde durch eine Explosion großflächig freigesetzt, insgesamt wurden 23.000 Quadratkilometer radioaktiv kontaminiert. In diesem Gebiet lebten zum Zeitpunkt des Unfalls 272.000 Menschen. Da sich die Kontamination auf den Ural beschränkte und keine messbaren Effekte in Westeuropa nachweisbar waren, konnte der Unfall viele Jahre geheim gehalten werden.
Die Region gilt bis heute als eines der verstrahltesten Gebiete der Welt. Nach Angaben der deutschen Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit wurden in den Jahren 1948 bis 2004 insgesamt 180.000 Terabecquerel (TBq) freigesetzt, davon 74.000 TBq bei dem Unfall im September 1957. Die größten Freisetzungen erfolgten demnach bei der Überflutung der umliegenden Felder durch den bewusst mit flüssigem radioaktivem Abfall kontaminierten Fluss Tetscha in den Jahren 1949 bis 1951.
3. 7. bis 12. Oktober 1957 – Windscale, Großbritannien
Stufe 5 – Ernster Unfall
Der Atomkomplex in Nordwestengland an der Irischen See wurde durch mehrere nukleare Störfälle bekannt. Der schwerste war der Brand im Jahr 1957, der als INES 5 eingestuft wurde.
Schon 1950 bzw. 1951 wurden die ersten beiden Windscale-Reaktoren für die Produktion von waffenfähigem Plutonium in Betrieb genommen. Nach dem kontrollierten Herunterfahren des Reaktors Pile No. 1 am 7. Oktober 1957 und dem darauf folgenden erneuten Anfahren kam es zu einem verhängnisvollen Missverständnis: Die Temperaturen im Reaktor wurden wegen fehlerhaft platzierter Messfühler falsch interpretiert und der Reaktor immer weiter hochgefahren. So fing der Kern Feuer, allerdings blieb der Brand zunächst unbemerkt. Erst am 10. Oktober zeigten Messgeräte an, dass der Reaktor Radioaktivität freisetzte. Nach mehreren missglückten Versuchen, den Kern abzukühlen und den Brand zu löschen, wurde der Reaktor schließlich am 11. Oktober mit Wasser geflutet. Große Mengen radioaktiver Gase entwichen mit der dabei entstehenden Dampfwolke in die Atmosphäre. Die Wolke zog über Großbritannien bis über das europäische Festland.
Nach dem Brand wurden die beiden Reaktoren außer Betrieb genommen, der Komplex von Windscale in Sellafield umbenannt. Doch die Skandalmeldungen aus der Anlage, wo 1956 noch ein Atomkraftwerk mit vier Reaktorblöcken seinen Betrieb aufnahm, gingen weiter. Immer wieder wurden Lecks entdeckt, radioaktive Lösungsmittel und Chemikalien einfach in die Irische See geleitet, auch Uran gelangte irrtümlich ins Meer. Mehrfach wurden Sicherheitspapiere gefälscht und Kontrollen nicht durchgeführt. Ab 2001 wurden die vier Reaktorblöcke nach und nach abgeschaltet. Heute ist in Sellafield nur noch die atomare Wiederaufbereitungsanlage in Betrieb.
4. 21. Januar 1969 – Lucens, Schweiz
Stufe 4 – Unfall bis Stufe 5 – Ernster Unfall
Der schwere Unfall in der Schweiz ist außerhalb des Landes weitgehend in Vergessenheit geraten, nachträglich wurde er auf der INES-Skala zwischen 4 und 5 eingestuft. Glücklicherweise war der Versuchsreaktor Lucens recht klein und in eine Felskaverne eingebaut, überirdisch lagen nur das Dienstgebäude und die Notstromaggregate. Nach einer ersten Inbetriebnahme im Frühjahr 1968 wurde der Reaktor wieder stillgelegt und erst im Januar 1969 wieder hochgefahren. Durch eingesickertes Wasser waren aber in der Zwischenzeit unbemerkt die Umhüllungsrohre der Brennstäbe korrodiert, dies verhinderte bei der Wiederinbetriebnahme die Kühlung der Brennelemente. Es kam zu einer partiellen Kernschmelze. Da die erhöhte Radioaktivität früh gemessen wurde, konnte das Personal noch rechtzeitig evakuiert und die Kaverne verschlossen werden. Die Felskaverne wurde massiv verstrahlt, die radioaktiv verseuchten Trümmer konnten erst nach Jahren weggeräumt werden. Die Aufräumarbeiten dauerten bis Mai 1973. Die Trümmer wurden in versiegelten Behältern vorerst weiter auf dem Gelände gelagert, bis sie 2003 in das Zwischenlager Würenlingen gebracht wurden.
5. 31. Dezember 1978 – Belojarsk, Sowjetunion
Stufe 3 – Ernster Störfall bis Stufe 4 – Unfall
Auch diese Atomanlage östlich des Urals, etwa 50 Kilometer von Jekaterinburg entfernt, ist schon häufig mit diversen Pannen, Stör- und Unfällen bekannt geworden. 1964 und 1979 brannten mehrmals Brennelemente im ersten Block des Kernkraftwerks durch, das Personal wurde einer erheblichen Strahlenbelastung ausgesetzt. Auch in Block 2 kam es 1977 zu einer hohen Strahlenbelastung der Mitarbeiter, als bei einem Unfall die Hälfte der Brennstoffkanäle schmolzen. In der Silvesternacht 1978/79 kam es ebenfalls in Block 2 zu einem Zwischenfall, der verhältnismäßig glimpflich ausging, aber auch viel schlimmere Folgen hätte haben können (eingestuft als INES 3-4). Wahrscheinlich aufgrund der extremen Temperaturen von bis zu -50 Grad Celsius stürzte das Dach der Turbinenhalle ein. Es kam zu einem Kurzschluss, der einen Großbrand auslöste und Messleitungen zum Reaktor teilweise zerstörte. Um einen GAU zu verhindern, musste der Reaktor heruntergefahren werden, das Personal konnte die Schaltzentrale aber wegen des dichten Rauchs nur kurzzeitig betreten. Erst nach einigen Stunden war der Reaktor wieder unter Kontrolle. Acht Menschen wurden schwer verstrahlt.
Auch im September 2000 schrammte Belojarsk an einer Katastrophe vorbei. Nach einem Stromausfall sprangen die Notstromaggregate in Block 3, einem Schnellen Brüter, nicht an. Diese sind wichtig, weil sie im Notfall für die unentbehrliche Kühlung des Reaktorkerns sorgen. Ob die Reparatur der Dieselgeneratoren gerade noch rechtzeitig gelang oder ob der Meiler per Hand abgeschaltet werden musste, ist nicht klar.
6. 28. März 1979 – Three Mile Island, USA
Stufe 5 – Ernster Unfall
Der Beinahe-GAU im AKW Three Mile Island bei Harrisburg war bisher der größte Atomunfall in der Geschichte der USA. Auf der INES-Skala wurde er bei 5 eingestuft. Mit dem Ausfall von zwei Kühlpumpen begann in Block 2 eine verhängnisvolle Verkettung von technischem Versagen, falschen Messsignalen und Bedienungsfehlern, durch die es zu einer partiellen Kernschmelze kam. Radioaktives Wasser und kontaminierter Dampf traten aus. Der anschließende Versuch, das hochexplosive Gasgemisch aus dem Reaktorkern in einen Tank abzuleiten, schlug fehl. Wegen des extrem hohen Explosionsrisikos wurde zwei Tage nach dem eigentlichen Unfall noch einmal eine hochgiftige Wolke in die Atmosphäre entlassen. Wie viel Radioaktivität tatsächlich entwich, bleibt unklar. Als am 1. April Schwangeren und Kindern empfohlen wurde, die Gegend im Umkreis von acht Kilometern um den Meiler zu verlassen, waren Tausende von Anwohnern längst geflohen.
Der alles zerstörende GAU konnte auf Three Mile Island mit viel Glück vermieden werden. Aber warum das Stahlgefäß der extremen Hitze der partiellen Kernschmelze standhielt und die radioaktive Glut deshalb nicht aus dem Reaktor entweichen konnte, stellte Fachleute vor ein Rätsel.
Der unbeschädigte erste Block des Kernkraftwerks wurde nach einer Unterbrechung in den 80er-Jahren wieder in Betrieb genommen. Seine Betriebserlaubnis wurde bis 2034 verlängert.
7. 26. April 1986 – Tschernobyl, Ukraine
Stufe 7 – Katastrophaler Unfall
In der Nacht vom 25. zum 26. April 1986, wird ein scheinbar harmloses Experiment im Atomkraftwerk Tschernobyl fehlerhaft ausgeführt und gerät außer Kontrolle.
8. 30. September 1999 – Tokai Mura, Japan
Stufe 4 – Unfall
In der Uranwiederaufbereitungsanlage Tokai Mura, 130 Kilometer nordöstlich von Tokio, missachteten Arbeiter Vorschriften und füllten eine zu große Menge relativ hoch angereichertes Uran in einen Tank. Dadurch kam es zu einer unkontrollierten Kettenreaktion. Zwei Arbeiter wurden dabei so verstrahlt, dass sie wenige Monate später starben. Viele weitere Bedienstete erhielten deutlich erhöhte Strahlendosen. In geringem Maße wurde auch Radioaktivität in die Umgebung freigesetzt. Die Kettenreaktion dauerte über 20 Stunden. Der Informationsfluss an die Behörden und die Anwohner war mehr als schleppend: Das Management informierte die lokalen Behörden erst über eine Stunde nach Beginn der Kettenreaktion, die Anlage wurde erst nach zwei Stunden weiträumig abgesperrt, nach vier Stunden gab es die ersten Evakuierungen und nach fast acht Stunden wurden über 300.000 Einwohner im Umkreis von zehn Kilometern aufgefordert, in ihren Wohnungen zu bleiben und Fenster und Türen geschlossen zu halten. Der Unfall wird von offizieller Seite mit INES 4 eingestuft.
9. 25. Juli 2006 – Forsmark, Schweden
Stufe 2 – Ernster Störfall
Wegen eines Kurzschlusses in der Umspannstation, in die das nur etwa 120 Kilometer von Stockholm entfernte Atomkraftwerk seinen Strom ins öffentliche Netz einspeist, wurde einer der drei Reaktoren über eine Schnellabschaltung auf ein Viertel seiner Nennleistung heruntergefahren. Um die Nachwärme des abgeschalteten Reaktors abzuführen, hätte ein Notkühlsystem automatisch anlaufen müssen. Aber nur zwei der vier Genera- toren sprangen an. Die anderen beiden startete die Betriebsmannschaft erst über 20 Minuten später, weil sie durch einen gleichzeitigen Teilausfall des Steuerungssystems den Überblick über den tatsächlichen Zustand des Reaktors verloren hatte.
Der ehemalige Konstruktionsleiter des Kraftwerks behauptete, Forsmark 1 habe kurz vor der Kernschmelze gestanden: Wären alle vier Generatoren ausgefallen, hätte niemand einen GAU verhindern können. Das wurde von offizieller Seite stets zurückgewiesen, der Meiler sei nie außer Kontrolle gewesen. Die schwedische Strahlenschutzbehörde bewertet den Vorfall als INES 2, räumte aber einige Wochen später ein, dass die Nachun- tersuchungen das Bild deutlich verschlechtert hätten. Auch Betreiber Vattenfall gestand – allerdings erst nach massiver Kritik durch Mitarbeiter des AKW Forsmark – Sicherheitsmängel ein.
10. März 2011 – Fukushima, Japan
mindestens Stufe 6 – Schwerer Unfall
Am 11. März erschütterte ein schweres Erdbeben der Stärke 9,0 den Nordosten der japanischen Hauptinsel Honshu, anschließend überflutete eine Tsunami-Welle die Küste. In der im Erdbebengebiet gelegenen Atomanlage Fukushima I schalteten sich die Reaktorblöcke 1, 2 und 3 automatisch ab, die anderen drei waren nicht in Betrieb. Als Folge des Bebens brach das Stromnetz zusammen, für die dringend notwendige weitere Abkühlung der abgeschalteten Reaktoren wären jetzt die Notstromaggregate zuständig gewesen. Die Dieselgeneratoren aber waren durch den Tsunami beschädigt, batteriebetriebene Pumpen konnten die Kühlung nur für wenige Stunden gewährleisten. In der Not pumpten die Betreiber mit Bor versetztes Meerwasser in die Meiler.
Am 12. März explodierte der Reaktor 1, zwei Tage später erst Reaktor 3 und schließlich auch Reaktor 2. Angeblich blieben die Reaktorhüllen aber intakt. Im Reaktorblock 4 brannte es in einem Abklingbecken mit gebrauchten Brennelementen, das außerhalb der Stahlummantelung lag. Dabei wurde die Betonhülle des Reaktors beschädigt. Außerhalb der Anlage wurden hohe Strahlungswerte gemessen. Auch in den Blöcken 5 und 6 gab es Probleme mit der Kühlung. 200.000 Menschen wurden rund um die Anlage evakuiert. Beobachter gehen davon aus, dass es zumindest zu partiellen Kernschmelzen gekommen ist, offizielle Angaben fehlten bis Redaktionsschluss.
Die Betreiber der Fukushima-Anlagen, die Elektrizitätsgesellschaft Tepco, wird seit langem kritisiert. Die japanische Regierung hatte nach einer Untersuchung 2002 mitgeteilt, dass Tepco über Jahre geschlampt, Unfälle verschwiegen sowie systematisch und gezielt Reparaturberichte gefälscht habe.
Todes- und Krebsfälle durch Tschernobyl
Die gesundheitlichen Folgen der Katastrophe von Tschernobyl sind bis heute heftig umstritten, selbst über die Zahl der Strahlentoten gibt es unterschiedliche Angaben. Ein offizieller Bericht der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA) von 2005 sprach von 56 Toten. Insgesamt könnten noch bis zu 4.000 Menschen als Folge der Strahlungsbelastung durch den Reaktorunfall sterben.
Diese Zahlen wurden von vielen Wissenschaftlern und Um-weltorganisationen als skandalös und verharmlosend kritisiert. Das Tschernobyl-Forum, ein internationales Fachgremium von Organisationen der Vereinten Nationen, schätzte im selben Jahr, dass es zwischen 5.000 und 10.000 zusätzliche Todesfälle durch Krebserkrankungen geben könnte. Eine von der Europaabgeordneten der Grünen, Rebecca Harms, 2006 in Auftrag gegebene Untersuchung (The Other Report on Chernobyl) geht sogar von 30.000 bis 60.000 zusätzlichen Krebstoten durch den Reaktorunfall aus.
Doch selbst wenn die Krebserkrankung nicht tödlich endet, bringt sie viel Leid mit sich. Sicher ist, dass es eine deutlich erhöhte Zahl von Schilddrüsentumoren, vor allem bei Kindern und Jugendlichen, gibt. Außerdem haben Frauen in den hoch belasteten Regionen der Ukraine und Weißrusslands ein doppelt so hohes Risiko, an Brustkrebs zu erkranken. Bei den stark belasteten Liquidatoren wurde in den ersten Jahren eine erhöhte Leukämierate beobachtet. Während die Hanhl der Schilddrücentumore bereits kurz nach dem Unglück in die Höhe ging, begann der Anstieg der Brustkrebsfälle erst etwa zehn Jahre nach dem Unfall. Deshalb ist wohl damit zu rechnen, dass es in Zukunft auch bei anderen Krebsarten einen Anstieg der Erkrankungen geben wird.
(sämtliche Aufnahmen sind aus der Öko-Test-Dokumentation)
zwei Artikel bei FAZ.net