Montag, 24. Dezember 2012

Die Welt wird verwandelt von der Phantasie der Liebenden

Seinebrücken, 1954

Keine Krippe, keine Hirten, keine Felder. Nein, die Seine­brücken (1954) sind kein Weihnachtsbild, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Aber auf den zweiten Blick erschließen sie sich als ein sehr zeitgemäßes Bild einer geweihten Nacht: Die Dinge ereignen sich über den Dächern von Paris. Ein Kind – geboren aus der Liebe und Sehnsucht seiner Eltern, die in leuchtendes Blau getaucht die Basis des Bildes legen – ist zur Welt gekommen. Auf dem Rücken eines geheimnisvollen Phönix, dessen Unsterblichkeit gerade auch die jüdische Phantasie zu vielen Paradieslegenden an­regte, schwebt das Kind an der Brust und im Arm seiner Mutter wie ein feuriger Lichtblick über dem Dunkel der modernen Metropole. Es ist ein Bild der alten und immer frischen und erfrischenden Kraft von Liebe und Leben. Im hintergründigen Strahlen von Chagalls Gemälde leuchtet jene Geschichte nach, die davon erzählt, wie Gott Hand und Fuß bekommt und zur Welt kommt, in dem kleinen Kind eines jungen Liebespaares.


Ein Lichtblick 

es ist dunkel 
manchmal ist unsere welt 
gefährlich dunkel 
da möchte man sich nicht mehr 
auf die straße wagen 

tödlich dunkel kann unsere weit sein 
wer das nicht weiß 
der weiß wenig 

vor uns ein lichtblick 
ein alter mann malt so 
mare chagall 

er ist ein prophet 
er prophezeit 
in bildern 
in farben 

er träumt 
und hofft 
und glaubt 
und liebt 
und malt 

für diesen malenden propheten 
ist das liebespaar 
zum symbol 
der zukunft 
zum symbol einer neuen 
menschenwürdigen welt 
geworden 

wir haben nichts mehr zu erwarten 
von dieser welt 
weder von der technik 
noch von der wirtschaft 

wir haben nur noch viel zu erwarten 
von der phantasie der liebenden 
aller liebenden 
sie wird unserer tristen welt 
neu farbe geben 
aus der Phantasie der liebenden 
entsprang immer schon der himmel

Wilhelm Willms


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