Samstag, 7. Februar 2015

Kapitalismus, Soziale Marktwirtschaft und das Versorgungsstärkungsgesetz

Gegenwärtig plant die Bundesregierung mit dem Gesetzentwurf für ein GKV-Versorgungsstärkungsgesetz eine Ausweitung des Regelwerks für die vertragsärztliche Versorgung. Wir wollen Sie gar nicht im Detail mit allen Ideen des Gesetzgebers konfrontieren, aber einen Punkt möchten wir herausgreifen.

Der Gesetzgeber plant, eine Termingarantie für Facharztbesuche auf Überweisung, verbunden mit einer Terminvermittlungsstelle bei der Kassenärztlichen Vereinigung, einzurichten. Jeder Versicherte, der eine Überweisung zum Facharzt erhält, hat nach dem Gesetzentwurf einen Anspruch auf einen Termin innerhalb von vier Wochen, der ihm durch die TerminservicesteIle vermittelt wird. Versicherte, die einen Augen- oder Frauenarzt aufsuchen wollen, haben den Terminanspruch sogar ohne Überweisung.


Damit reagiert der Gesetzgeber auf die immer wieder aufkeimende Debatte um Wartezeiten auf Facharzttermine. Er lässt dabei aber vollkommen außer Acht, dass die Wartezeiten in Deutschland im Vergleich zu den OECD-Staaten am niedrigsten sind und in dem gedeckelten System der vertragsärztlichen Versorgung einfach keine Kapazitäten zur Verfügung stehen, um alle Behandlungswünsche schneller abarbeiten zu können. Schon jetzt haben wir die Situation, dass im Rahmen der gedeckelten Gesamtvergütung im Facharztbereich rund 25 Prozent der erbrachten Leistungen nicht vergütet werden können. Wo zusätzliche Kapazitäten für schnellere Termine herkommen sollen, liegt zumindest nicht auf der Hand.


Besonders perfide ist, dass für den Fall, dass ein Termin bei einem niedergelassenen Facharzt nicht innerhalb von vier Wochen garantiert werden kann, unsererseits ein Termin in einem Krankenhaus angeboten werden soll, der dann zu Lasten des Budgets der Vertragsärzte geht. Abgesehen davon, dass die Krankenhäuser auch keine Kapazitäten für zusätzliche ambulante Fälle haben, werden perspektivisch noch mehr Leistungen in der ambulanten Versorgung nicht bezahlt werden können. Dies ist weder im Sinne der Patienten, noch in unserem oder Ihrem ureigensten Interesse. Der Gesetzgeber reagiert mit einem untauglichen Mittel und das ausschließlich zu Lasten der niedergelassenen Vertragsärzte, obwohl er selbst gefordert wäre, eine vernünftige Patientensteuerung einzuführen.


Wir alle wissen, dass die Termingarantie in der Großen Koalition der Kompromiss zwischen der Bürgerversicherung einerseits und dem Erhalt des Systems GKV und PKV andererseits ist. Die Zeche sollen allein die niedergelassenen Vertragsärzte bezahlen. Und auch die vermeintlich bevorteilten Patienten wird die TerminservicesteIle nicht glücklich machen. Sie werden erwarten, dass sie ihren Wunschtermin bei der TerminservicesteIle telefonisch vereinbaren können. So wird es aber nicht sein. Wenn überhaupt wird eine TerminservicesteIle einen Termin bei einem Facharzt der jeweiligen Fachgruppe zu einem x-beliebigen Termin an einem x-beliebigen Ort vermitteln, persönliche Arzt-Patienten-Bindungen spielen keine Rolle mehr.


Seit Vorlage des ersten Gesetzentwurfs haben wir auf allen Ebenen insbesondere gegen die TerminservicesteIle gekämpft. Wir alle müssen auch in den kommenden Wochen und Monaten unsere jeweiligen Möglichkeiten nutzen, um diese Termingarantie, verbunden mit der TerminservicesteIle, zu verhindern. Noch ist das Gesetz nicht beschlossen.

aus einem Schreiben der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen
siehe auch:
- Versorgungsstärkungsgesetz: Der erste Aufschlag ist gemacht (Falk Osterloh, Sabine Rieser, Deutsches Ärzteblatt,  111/2014)

mein Kommentar: 
muggling through (Durchwursteln) allenthalben… In dem durch den damaligen Kanzler Schröder nach Jahren Kohl’schen Aussitzens mühselig geflickten Sozialen Netzen knirscht es überall. Unser Sozialsystem ist so nicht mehr finanzierbar. Jetzt wird versucht die Zitrone noch ein wenig weiter auszuquetschen. Mal sehen, wo noch was geht… Da prügeln wir doch medienwirksam auf angeblich narzißtisch gestörte russische Präsidenten ein, um vom Mißlingen des Kapitalismus, der sozialen Merktwirtschaft und entfesselter Finanzmärkte abzulenken. Wir Ärzte, die wir uns genauso dumm und dämlich verdienen wie Putin ein gestörter Narzißt ist, bekommen den nicht regulierbaren Dreck zugeschoben und müssen uns mit unseren Patienten darüber auseinandersetzen. Und weil wir Ärzte – bis auf einige medienwirksam zur Strecke gebrachten Arschlöcher – am Helfersyndrom leiden, geben wir weiterhin die Schmiere in diesem Killer-System.

Medizinerinnen und Mediziner weisen empirisch belegt eine höhere Suizidrate auf als die Allgemeinbevölkerung auf. Die Selbsttötungsraten sind nach den Ergebnissen von 14 internationalen Studien 1,3-3,4-fach höher, die für Medizinerinnen sogar 2,5-5,7-fach höher als bei vergleichbaren Nichtmedizinerinnen. Die Geschlechterverteilung bei den Ärztinnen und Ärzten ist interessanterweise "ausgewogen", während sich in der Allgemeinbevölkerung Männer 2,5 mal häufiger suizidieren als Frauen.

In einer norwegischen Studie gab ein Viertel der Medizinerinnen und Mediziner an, manchmal oder häufig das Gefühl zu haben, das Leben sei nicht mehr lebenswert. Jeder Zehnte der Befragten hatte sogar ernsthafte Suizidabsichten. Eine deutsche Studie erbrachte noch erschreckendere Ergebnisse: Die Hälfte der Medizinerinnen und Mediziner gab an, in ihrem Leben bereits Suizidabsichten gehabt zu haben, zwei Drittel halten es für möglich, dass sie sich in Zukunft suizidieren.

mehr:
- Suizidalität bei Medizinerinnen und Medizinern (Melanie Hüttemann, Thieme, 08.06.2011)
Zitat:
»Depressive Störungen und Substanzabusus sind die häufigste Ursachen für einen Suizid. Verschiedene Studien mit psychiatrischen Interviews oder Depressivitätsskalen ergeben, dass Medizinerinnen und Mediziner signifikant häufiger als die Allgemeinbevölkerung eine depressive Symptomatik zeigen (23-31% der Medizinerinnen und Mediziner im ersten Jahr ihrer Assistenzarztzeit zeigen eine depressive Symptomatik gegenüber 15% der gleichaltrigen Allgemeinbevölkerung), wobei Medizinerinnen besonders depressionsgefährdet sind. Dafür wird die extrem hohe Arbeitsbelastung im Arztberuf und die Müdigkeit aufgrund von Überstunden und Schlafmangel verantwortlich gemacht. Bezüglich des Substanzabusus' ist beachtenswert, dass 10-15% der Mediziner im Laufe Ihres Lebens mit Alkohol und anderen Drogen Probleme haben.«

Ärzte stehen unter einem enormen Stress: unzählige Überstunden und die ständige Konfrontation mit Leiden und Tod, der erhöhte Stresslevel und eine Burnout-Symptomatik bringen Ärzte an den Rand der Belastungsfähigkeit. Ärzte erleben eine Verantwortlichkeit für Leben und Tod, bei gleichzeitigem Bewusstsein der Grenzen ärztlichen Handelns. Die meisten Ärzte erleben in dieser Situation keine Unterstützung, sie werden auf diese Verantwortung weder vorbereitet, noch werden sie dabei psychologisch unterstützt. In keiner Berufsgruppe findet man eine solche Verantwortung bei einer gleichzeitig derart vernachlässigten Unterstützung von außen, beklagen die Autoren. Ärztinnen und Ärzte nehmen häufig keine Hilfe in Anspruch, obwohl Ihnen natürlich der Zugang zu professioneller Hilfe offen steht. Sie müssen einerseits befürchten, dass der behandelnde Arzt sie eher als Kollege denn als Patienten ansieht, was einer adäquaten Therapie möglicherweise im Wege steht, andererseits steht in einigen Fällen die Approbation auf dem Spiel. Ärztinnen und Ärzte, die einen Kollegen konsultieren und ihm von Major-Depressionen mit Suizidalität und Substanz-Abusus berichten, stehen möglicherweise am vorläufigen Ende ihrer beruflichen Karriere
.


Ihrer eigenen seelischen Gesundheit zu Liebe sollten sich Ärzte nicht uneingeschränkt für ihre Patienten und ihren Arbeitgeber aufopfern - die Arbeit darf nicht der einzige Lebensinhalt und Lebenssinn sein. Es ist von immenser Wichtigkeit, dass Ärzte trotz ihrer anstrengenden und zeitintensiven Arbeit Freundschaften und Partnerschaften nicht vernachlässigen. Notwendig ist, so das Fazit der Metastudie eine "Distanz und klare Grenzziehung". Die Autoren formulieren auch, was von Arbeitgeberseite konkret notwendig ist: eine Umsetzung der EU-Richtlinie zur Arbeitzeit, nicht zuletzt, weil die Lebensqualität von Ärztinnen und Ärzten mit 55 und weniger Arbeitsstunden deutlich höher eingestuft werde als die von Ärzten mit 70 und mehr Überstunden.
 
[Hervorhebungen im Artikel, man beachte die Kommentare!] 
siehe auch:
- Zwischen Berufung und Burn-out - wenn der Arztberuf krank macht (Christiane Groß, Rheinisches Ärzteblatt, Oktober 2009)
- Deutschlands Krankenhausärzte unter hohem Arbeits- und Zeitdruck (Arbeitsschutz Sachsen)

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