Donnerstag, 23. April 2015

Augen, die zu früh zu viel gesehen haben

Normalerweise lichtet er Models und Designerkleider für Hochglanzmagazine ab. Die größte Herausforderung aber fand der Fotograf Ruvan Wijesooriya in Afghanistan. Vor seiner Kamera: Schulkinder mit Traumata – und Träumen 

Mit festem Blick schaut Taiba in die Kamera. Nur schwach deutet das Mädchen ein Lächeln an. Ihre Hände stecken in den Taschen ihres dunklen Mantels, das weiße Kopftuch liegt lose auf ihrem Hinterkopf und fällt locker über die zierlichen Schultern der Fünftklässlerin. „Ich möchte Ärztin werden“, steht unter dem Foto. Auch Taibas Klassenkameradin Lyda blickt ernst. Ihr Berufswunsch: Polizistin. Soriya hingegen lächelt offen und neugierig unter ihrem akkurat sitzenden Kopftuch in die Kamera. Fast meint man, beim Betrachten ihres Porträts das Kichern der Zehnjährigen zu hören. Pilotin, das ist ihr Traumberuf.

Taiba, Lyda und Soriya leben im afghanischen Mir Bacha Kot, rund 25 Kilometer nördlich von Kabul. Hier standen die drei Mädchen vor der Kamera von Ruvan Wijesooriya. „Für die meisten von ihnen war es das erste Mal“, erinnert sich der 37-Jährige, der extra aus New York anreiste, um insgesamt 238 Schülerinnen und Schüler der „Roots of Peace“-Schule zu fotografieren und sie von ihren Träumen erzählen zu lassen. Für die überwiegend ernsten Gesichtsausdrücke hat Wijesooriya eine einfache Erklärung: „Diese Kinder kennen Porträtfotos fast nur von Generälen oder Märtyrern, also imitierten sie deren Ernsthaftigkeit“. Und so lächeln zwar einige von ihnen ausgelassen in die Kamera, viele blicken jedoch würdevoll, fast feierlich. Auch Taiba.

Dass sie zur Schule gehen kann, ist keine Selbstverständlichkeit in ihrer von Krieg und patriarchischen Strukturen gezeichneten Heimat. Noch vor rund zehn Jahren besuchten nur rund 900.000 Kinder und Jugendliche überhaupt die wenigen Schulen des Landes. Mädchen waren vom öffentlichen Bildungswesen nahezu ausgeschlossen. Heute machen sie fast 40 Prozent der mittlerweile über acht Millionen Schüler in Afghanistan aus – zumindest bis zu einem gewissen Alter: „Sobald sie in die Pubertät kommen, verschwinden sie meist aus den Schulen und leben sehr zurückgezogen“, erzählt Wijesooriya. Die Momente davor hat er in beeindruckenden Bildern festgehalten.


Von der High Society nach Afghanistan und zurück
Mit dieser Glitzerwelt könnte das Herzensprojekt des 37-Jährigen kaum weniger zu tun haben: Aus seiner ehrenamtlichen Arbeit mit den afghanischen Schulkindern aus dem kleinen Mir Bacha Kot entstand nun das „Yearbook Afghanistan“ – ein virtuelles Fotoalbum und zeitgeschichtliches Dokument, in dessen Fokus die Kinder eines Landes stehen, das sonst nur als Schauplatz von Krieg und Krisen gilt. Ein besonderes Erlebnis für den erfahrenen Fotografen und seine unerprobten Nachwuchs-Models: „Sie genossen die Erfahrung sichtlich. Diese Kinder haben fast nie Gelegenheit, sich zu entspannen, glücklich zu sein und im Mittelpunkt zu stehen. Genau das passiert aber, wenn man ein Porträt macht.“

Grund zu Entspannung und kindlicher Ausgelassenheit gibt es in Mir Bacha Kot selten. „Die Gegend war früher übersät mit Landminen“, erzählt Wijesooriya. Später fanden viele Kriegsflüchtlinge ihren Weg in die noch immer ärmliche Region, die heute multiethnisch geprägt ist. Viele Kinder wachsen ohne Eltern und in großer Armut auf. 2011 hörte der Fotograf zum ersten Mal von der Arbeit der NGO „Roots of Peace“, die sich nicht nur dem Kampf gegen Landminen verschrieben hat, sondern auch mehr Mädchen in Schulen bringen will. Spontan bot er der Organisation an, die „Roots of Peace“-Schule zu unterstützen. Mit einem Fotoprojekt natürlich.

mehr:
- Augen, die zu früh zu viel gesehen haben (Katharina Pfannkuch, Cicero, 23.04.2015)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen