Ein Spieler-Etat von 3 Millionen Euro und ein Stadion, in das keine 4200 Zuschauer passen. In Carpi wird erfolgreich mit kleiner Kelle angerührt. Schon bald sollen hier Juve, Inter und Lazio spielen.
Blitze und Donnergrollen leiten die Nachspielzeit des Fussballspiels zwischen Carpi und Bari ein. Der Himmel über dem Stadion Sandro Cabassi verfärbt sich in der Nacht auf Mittwoch in den unterschiedlichsten Violetttönen. Spannung liegt aber nicht nur in der Luft. «Nur noch 240 Sekunden trennen Carpi vom historischen Aufstieg in die Serie A», brüllt der Reporter des Lokalsenders Radio Bruno ins Mikrofon. Die knapp 4200 Zuschauer im randvollen Stadion sind elektrisiert. Auch sie wissen, dass das 0:0 genügen würde, um zu erreichen, was bis vor ein paar Monaten undenkbar war. Der Trainer Fabrizio Castori tigert im strömenden Regen vor der Bank auf und ab. Ein letztes Aufbäumen der Mannschaft aus Apulien könnte das Fussballfest noch ruinieren. Wie sich das anfühlt, wissen die Spieler. Ein paar Tage zuvor sind sie nach sieben Siegen in Serie in Frosinone gestrauchelt und haben die erste Gelegenheit zum vorzeitigen Aufstieg verpasst.
Ein Barkeeper als Türöffner
Nochmals werde sich die Mannschaft aber nicht die Butter vom Brot nehmen lassen, zeigt sich Castori am Vortag des Spiels überzeugt. «Wir sind bereit für den letzten Schritt», sagt der 60-Jährige nach dem montäglichen Training in den heruntergekommenen Katakomben des Stadions. Die Mannschaft habe die Meisterschaft dominiert und sich den Aufstieg verdient.
Tatsächlich hat Carpi eine traumhafte Saison gespielt. Nach einem Start mit dem Ligaerhalt als Ziel zeigte sich rasch, dass es mit der Taktik des zu Saisonbeginn engagierten Trainers, die auf ein intensives, schnelles Spiel mit weiten Pässen in die Spitze fusst, möglich ist, auch Gegner zu schlagen, die auf dem Papier übermächtig erscheinen. Schritt um Schritt kletterte Carpi die Tabelle der Serie B hoch. Und wenn während der Vorrunde das Augenmerk des Vereins noch auf dem Punkte-Unterschied zu den Abstiegsplätzen lag, begann man Mitte Herbst mehr und mehr an das Unmögliche zu glauben. Nach den Weihnachtsferien grüsste die Mannschaft von der Tabellenspitze, hatte jedoch Mühe, ins neue Jahr zu starten. Mehrere Verletzungen unter anderem des nigerianischen Torjägers Jerry Mbakogu führten zu vier torlosen Remis in Folge.
Die Verfolger konnten daraus jedoch keinen Profit schlagen. Und so setzte Carpi zu einem Höhenflug an, bei dem der Mannschaft alles zu gelingen schien, ganz zum Ärger Claudio Lotitos. Der wiederholt in juristische Querelen verwickelte Präsident der SS Lazio Rom und Besitzer der US Salernitana sagte in einem mitgeschnittenen und Mitte Februar von den Medien publizierten Telefongespräch , dass der Aufstieg von Mannschaften wie Carpi der Serie A schade, weil sich die TV-Rechte nicht verkaufen liessen. Seither ist Lotito nicht nur in Carpi regelmässig Zielscheibe von Spruchbändern und Fan-Chören. Die Mannschaft dürfte derweil von solcher Polemik zusätzlich angespornt worden sein.
Spätestens seit dem 3:0-Sieg im Spitzenspiel gegen das einst so grosse Bologna Anfang April sei allen klar gewesen, dass diese Mannschaft heuer nicht mehr zu stoppen sei, erzählt Romeo Girelli. Der Besitzer des Caffè Madera und langjährige Carpi-Fan ist zum Mannschaftstraining gekommen, in der Hoffnung, ein Ticket für das seit Tagen ausverkaufte Dienstags-Spiel zu ergattern. Als er erfährt, dass sich eine Schweizer Zeitung für «seinen» Klub interessiert, lässt er alles stehen und liegen, um uns zum Klubhaus auf der gegenüberliegenden Seite des Stadions zu begleiten. Ohne uns ausweisen zu müssen oder kontrolliert zu werden, werden wir vom Barkeeper ins Herz der Klub-Verwaltung eingeschleust.
Im Innern des Gebäudes an der Via Carlo Marx geht es zu wie in einem Bienenhaus. Dauernd klingelt irgendwo ein Telefon. «Pronto!», widerhallt es von den nackten Wänden, die sich einzig durch die vielen Mannschafts-Fotos von einem Hinterstübchen eines in die Jahre gekommenen Tabacchinos unterscheiden. Die Gesichter, die von den vergilbten Postern lachen, freuen sich über gewonnene Meisterschaften der Serie D oder Aufstiege in die Serie C1. Vom «grande calcio» wurde in «Cäärp», wie die Stadt im lokalen Dialekt heisst, immer nur geträumt. Über weite Strecken seiner 106-jährigen Geschichte pendelte Carpi zwischen den Serien C, D – und noch tieferen Ligen. Im Jahr 2000 ging der Klub in Konkurs. In der Folge spielte die Mannschaft bis 2010 in Amateurligen, auf Plätzen, auf denen kaum ein Grashalm wuchs. Der erstmalige Aufstieg in die Serie B vor zwei Jahren wurde von den Fans bereits als «Ankunft im Paradies» bezeichnet – ohne die geringste Hoffnung auf mehr.
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- Italienisches Fussballmärchen – Carpi diem (Ronny Nicolussi, NZZ, 02.05.2015)
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