Sonntag, 3. Mai 2015

Nepal – Griechenland im Himalaya

Für Nepals Machtelite ist der Staat ein Mittel zur Selbstbereicherung. Auch deshalb ist das Land nach dem Beben so stark auf internationale Hilfe angewiesen. Die Geber laufen Gefahr, diese Missstände zu verfestigen.

Einer der meistgehörten Sätze dieser Tage in Kathmandu ist ein Misstrauensvotum. «Vom Staat erwarten wir nichts.» Die Menschen unter den Zeltplanen, die aus Furcht vor Nachbeben nicht in ihre Häuser zurückkehren wollen, die Freiwilligen, die in den Trümmerhaufen nach Überlebenden suchen, die Verschonten, die den weniger Glücklichen mit Nahrungsmitteln helfen – von der Regierung erwarten sie nichts. Und dies zu Recht, denn mit Ausnahme der Armee glänzen die staatlichen Institutionen nach der schwersten Naturkatastrophe der letzten acht Jahrzehnte in jeglicher Hinsicht mit Abwesenheit. Die Auftritte von Premierminister Koirala an Unglücksorten lassen sich an einer Hand abzählen.

Günstlingswirtschaft

«Nepals Eliten haben den Staat nie als Leistungserbringer für das Volk, sondern immer als Bereicherungsmöglichkeit verstanden», erklärt Thomas Bell. Der Brite lebt seit über einem Jahrzehnt in Nepal und hat mit dem Buch «Kathmandu» eine vielbeachtete Beschreibung seiner Wahlheimat vorgelegt. «Auch vor dem Beben funktionierten Wasser- und Stromversorgung dort am besten, wo Günstlinge der Regierung lebten. Das Einzige, was die Regierung effizient betreibt, ist die Bewirtschaftung ihres Patronagesystems.» Auch nach dem Hochwasser im Sommer 2014 habe die Regierung nicht viel mehr getan, als internationale Hilfe zu fordern.

Natürlich ist Nepal nicht das einzige arme Land mit Eliten, die sich nicht um das Wohl der Bevölkerung kümmern. Die Stabilität der Machtverhältnisse ist aber aussergewöhnlich. Der Himalajastaat war nie eine westliche Kolonie, seit dem 18. Jahrhundert herrscht eine relativ homogene städtische Oberschicht aus Angehörigen der höchsten Kasten über nahezu alle Aspekte des Lebens. Dies hat sich auch nicht geändert, als nach dem Ende des Bürgerkrieges die Monarchie abgeschafft wurde. Das Land führt zwar demokratische Wahlen durch, ist aber weiterhin von feudalen Machtstrukturen geprägt. Wie stark diese auf enge Kreise in Kathmandu beschränkt sind, zeigt sich auch daran, dass ältere Generationen von «Nepal» sprechen, wenn sie die Hauptstadt meinen. Das Machtzentrum steht fürs ganze Land. Wer nicht dazugehört, sieht nur im Ausland Perspektiven. Kaum ein Land der Erde ist so stark auf Überweisungen von Gastarbeitern im Ausland angewiesen wie Nepal.

mehr:
- Nepals korrupte Eliten – «Vom Staat erwarten wir nichts» (Volker Pabst, NZZ, 03.05.2015)
»Die in Teilen Griechenlands über 400 Jahre währende osmanische Herrschaft führte dazu, daß die Griechen den Staat im wesentlichen als Ausbeuter erlebten. Während in Westeuropa ein selbstbewußtes Bürgertum entstand, welches den Staat als das eigene Staatswesen, als die eigene bürgerliche Republik empfand, war der Staat für die Griechen gleichbedeutend mit Fremdherrschaft, gegen die es sich zu wehren galt und die man haßte. Steuervermeidung und Diebstahl von staatlichem Eigentum waren typische Abwehrreaktionen. Diese Einstellung zum Staat wurde zu einer Tradition, die bis heute fortwirkt.« (Heinz A. Richter, Athener Klientelismus, in: Lettre international 96, Frühjahr 2012)

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