Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen hat seinen Rücktritt mit dem „enttäuschenden Wahlergebnis“ begründet. Grund für die SPD-Niederlage war auch die niedrige Wahlbeteiligung. Es wäre daher Zeit, über eine Wahlpflicht nachzudenken. Das mag unsympathisch und anstrengend sein. Aber Anstrengung ist konstitutiv für das Funktionieren einer Demokratie
Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen hat seinen Rücktritt mit dem „enttäuschenden Wahlergebnis“ begründet. Grund für die SPD-Niederlage war auch die niedrige Wahlbeteiligung. Es wäre daher Zeit, über eine Wahlpflicht nachzudenken. Das mag unsympathisch und anstrengend sein. Aber Anstrengung ist konstitutiv für das Funktionieren einer Demokratie
In Bremen beobachtet man dieser Tage einen weiteren, vermeintlich traurigen Rekord: Nur etwa die Hälfte der Wählerinnen und Wähler verschlägt es überhaupt noch in die Wahllokale. Das Wegbleiben von der Wahlurne ist inzwischen zur traurigen Realität einer auf Partizipation angelegten Demokratie geworden. Schließlich, so der verbreitete antipolitische Affekt, bringe Wählen in Zeiten der „Alternativlosigkeit“ wenig bis nichts. Doch bisweilen wird unter Verweis auf die scheinbar selbstgefällige Politik kaschiert: Konsequente Stimmverweigerung sei auch Zeichen einer ermüdeten Wählerschaft, die sich selbstgerecht in der Demokratie eingerichtet habe.
Vergessen sind all jene Kämpfe, die erst zur Erringung des Wahlrechts ausgefochten werden mussten. Vergessen die großen Revolutionen, die den Herrschenden das Wahlrecht abgerungen haben. Zur Erinnerung: Bei der ersten freien Volkskammerwahl nach Ende der DDR-Diktatur vor 25 Jahren nutzten noch weit über 90 Prozent ihr Recht auf freie Wahl. Daran wieder zu erinnern, wäre eine mögliche und zugleich wichtige Funktion einer möglichen Wahlpflicht. Das mag man dann als Belehrung kritisieren. Aber Demokratie ist eben kein selbstverständliches Gut, sondern bedarf auch der alltäglichen Verteidigung – wenn schon nicht innerhalb der Parteien, so doch in der Wahlkabine.
Voraussetzungen für eine Wahlpflicht
Indes, die grassierende Politikverdrossenheit ist nicht nur ein Produkt einer ermüdeten Demokratie, sondern – diese Diagnose ist nun einmal nicht von der Hand zu weisen – auch eines sich immer mehr entfremdeten Verhältnisses von Politik und Wähler. Vielfach entstammen die politischen Eliten entrückten Lebenswelten. Der Kleinkrieg um politische Deutungshoheit in den sozialen Netzwerken oder den abendlichen Polit-Talks funktioniert ganz ohne Idee, ohne Erzählung, ohne Konzept. Zudem sind die Steuerungsprobleme des Politischen inzwischen vielfach determiniert durch Globalisierung und Internationalisierung, kurzum: wenig nachvollziehbar, wie TTIP, CETA und Co.
Hier sind Politik und Medien aufgefordert. Sie sollten politisches Handeln wieder erklären und vermitteln, wie in den Gründerjahren der Bundesrepublik durch die Generation der 45er. Zudem bedarf es wieder der Alternativen. Dem verbreiteten – und Verdruss erzeugenden – Eindruck des alternativlosen Vollzugs technisch-ökonomischer Zwänge durch die Politik muss wieder die Pluralität politischer Entwürfe entgegengestellt werden dürfen – grundsätzlich, ideologisch, emphatisch.
mehr:
- Politikverrossenheit – Warum wir eine Wahlpflicht brauchen (Michael Lühmann, Cicero, 11.05.2015)
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