Frankreich Der erste staatlich sanktionierte Slum für Migranten liegt auf einer ehemaligen Mülldeponie an der Peripherie von Calais
Seit Tagen versucht Karim, aus den Resten von Plastikplanen, dünnen Ästen, Steinen und einer Holzpalette ein Zelt zu bauen, das ihm wenigsten einigermaßen Schutz vor Kälte, Wind und Regen bietet. Der junge Mann, der in Ägypten Politikwissenschaften studiert hat, Winston Churchill verehrt und alles bewundert, was britisch ist, sitzt auf dem Gelände einer ehemaligen Mülldeponie außerhalb von Calais. Er schimpft über die Brache, die mit dornigen, zerzausten Büschen übersät ist: „Das ist einer der schlimmsten Orte, die ich je gesehen habe – hier kann man ja nicht einmal Tiere halten.“ Vergangene Nacht hat es erneut in sein improvisiertes Zelt geregnet. Da stand er um zwei Uhr auf und trottete die sieben Kilometer in seine alte Unterkunft im Zentrum von Calais zurück. Unterwegs wurde er von einem Autofahrer rassistisch beschimpft und mit faulen Kartoffeln beworfen.
Karims altes Lager befindet sich in einer verlassenen Metallfabrik. Hier hängt zwar ein übler Geruch in der Luft, doch wenigstens hat man ein Dach über dem Kopf und fließendes Wasser. Die französische Polizei hat damit gedroht, das Gebäude abzureißen. Karim und die anderen bekamen zu hören, sie hätten jetzt keine andere Wahl mehr, als auf die Mülldeponie zu ziehen.
„Ich habe 3.000 Dollar bezahlt, um aus Ägypten wegzukommen, habe auf einem Boot nach Italien mein Leben riskiert und Tage auf dem Meer verbracht“, erzählt Karim. „Jetzt bin ich seit einem Monat in Calais und habe schon ein Dutzend Mal versucht, mich auf einen Truck zu schleichen, um nach Großbritannien zu kommen. Aber jedes Mal hat mich die Polizei erwischt. Ich will kein Geld von den englischen Steuerzahlern. Ich respektiere England und habe große Achtung davor, wie Winston Churchill diesen schrecklichen Weltkrieg gewonnen hat. Alles, was ich will, ist ein menschenwürdiges Leben. Und jetzt sitze ich hier in dieser Einöde und im Dreck und muss mir ein Zelt zusammenflicken. Verzweifelter kann man nicht sein.“
Das verlassene Ödland im Schatten der Autobahn am Stadtrand von Calais ist Frankreichs erster offizieller, staatlich sanktionierter Slum für Migranten. Seit Anfang April versuchen an die 1.000 Flüchtlinge auf Druck der Behörden hin, im Freien eine Shantytown zu errichten, die bisher unter dem Namen la nouvelle jungle (der neue Dschungel) bekannt ist. Dieser Entschluss markiert eine Kehrtwende im Umgang mit den etwa anderthalbtausend Migranten, die zur Zeit in der Küstenstadt festsitzen und darauf warten, als blinde Passagiere die britische Insel zu erreichen. Auf der Brache gibt es keine Toiletten, weder fließendes Wasser noch Elektrizität. Der einzige Vorteil besteht darin, dass es sich um eine „tolerierte Zone“ handelt, die praktischerweise außerhalb der Stadt liegt. Hilfsorganisationen warnen davor, dass sich die Situation noch weiter verschärfen könnte, falls noch mehr Menschen gezwungen werden, unter diesen unhaltbaren Bedingungen auszuharren.
mehr:
- Mitten im Dschungel (Angelique Chrisafis, der Freitag, 13.05.2015)
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