Der frühere Europarat-Botschafter Paul Widmer schreibt gegen das Stimmrecht Russlands im Europarat – mit falschen Fakten.
Red. Ludwig A. Minelli ist Zürcher Rechtsanwalt und Generalsekretär der Schweizerischen Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention (SGEMKO).
Widmer: «Der Europarat muss Russland ausschliessen»
Der ehemalige Schweizer Botschafter beim Europarat in Strassburg zwischen 2007 und 2011, Paul Widmer, macht sich in der NZZ vom 6. Juni in seinem Gastkommentar «Europas Gewissen wankt» Sorgen um die Glaubwürdigkeit des Europarates. Denn es sei zu befürchten, dass dessen Parlamentarische Versammlung in Kürze Russland das Stimmrecht wieder zuerkennen werde. Die Aussenminister der 46 übrigen Mitgliedstaaten des Europarates haben dies auf ihrem Mai-Treffen in Helsinki vorgeschlagen, nachdem der Europarat Russland nach der Annexion der Krim das Stimmrecht entzogen hatte. Seit längerem zahlt Russland deshalb auch keine Beiträge mehr an den Europarat.
Widmer fordert nun: «Einen Staat, der seinen Beitragsverpflichtungen zwei Jahre lang nicht nachkommt, muss der Europarat gemäss Satzung ausschliessen».
Diese Darstellung ist falsch, denn eine solche Bestimmung findet sich nicht in dessen Satzung. Die massgebenden Artikel 8 und 9 der Satzung des Europarates vom 5. Mai 1949 lauten:
- Art. 8
Einem Mitglied des Europarates, das sich einer schweren Verletzung der Bestimmungen des Artikels 3 schuldig macht, kann sein Recht auf Vertretung vorläufig entzogen und es kann vom Ministerkomitee aufgefordert werden, gemäss den in Artikel 7 vorgesehenen Bestimmungen seinen Austritt zu erklären. Kommt es dieser Aufforderung nicht nach, so kann das Komitee beschliessen, dass das Mitglied von einem vom Komitee bestimmten Zeitpunkt an dem Rat nicht mehr angehört.
Art. 9
Erfüllt ein Mitglied seine finanziellen Verpflichtungen nicht, so kann ihm das Ministerkomitee das Recht auf Vertretung im Komitee und in der Beratenden Versammlung entziehen, und zwar für so lange, als es seinen Verpflichtungen nicht nachkommt.
- Die NZZ verbreitet diplomatische Fake-News (Ludwig A. Minelli, InfoSperber, 09.06.2019)
siehe auch:
- Außenministertreffen: Europarat beendet Sanktionierung Russlands (ZON, 17.05.2019)
- Der Europarat und Russland – Glaubwürdigkeit verlangt konsequente Entscheidungen (Susan Stewart, Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Stiftung Wissenschaft und Politik, Mai 2019)
zur SWP (Stiftung Wissenschaft und Politik) siehe auch:
- Wir sind die Guten (Paul Schreyer, Telepolis, 04.02.2014)
- Marktradikale Pressure Groups (Hermann Ploppa, usacontrol.wordpress.com, 02.06.2008)
Mein Kommentar:
erst habe ich mich gewundert, daß man solche Interviews auf der NZZ findet, dann war ich erstaunt, daß sich Susan Stewart von der SWP so dezidiert negativ äußert, und dann habe ich ein wenig bei Wikipedia gestöbert – und bin schließlich beim Telepolis-Artikel von Paul Schreyer gelandet.
… und wenn man sich in dessen Artikel den Abschnitt »Neue Macht – altes Spiel« durchliest, versteht man den NZZ-Beitrag ein wenig besser.
Also: Entweder ich falle jetzt dem Verfolgungswahn anheim, oder eine recht große Menge Leute sind entweder gekauft oder gehirngewaschen.
Auf wundersame Weise bin ich dann auf einen Artikel von Arvid Bell gestoßen (folgender Wikipedia-Artikel, Fußnote 17), der einfach nicht mehr auffindbar ist…
Erstmal der Absatz bei Wikipedia:
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Ein zwischen November 2012 und September 2013 gemeinsam mit dem German Marshall Fund erarbeitetes Papier mit dem Titel „Neue Macht – Neue Verantwortung“ fordert von Deutschland die Übernahme von mehr Verantwortung im Umgang mit „Störern der internationalen Ordnung“. Es plädiert für eine stärkere sicherheitspolitische Handlungsbereitschaft Deutschlands und der EU. Unter anderem heißt es dort: „Europa und Deutschland müssen daher Formate für NATO-Operationen entwickeln, bei denen sie weniger auf US-Hilfe angewiesen sind. Das verlangt mehr militärischen Einsatz und mehr politische Führung. Vor allem muss Europa mehr Sicherheitsvorsorge in der eigenen Nachbarschaft betreiben; das ist Europas ureigene Verantwortung. Deutschland muss dazu einen seinem Gewicht angemessenen Beitrag leisten.“[13] Das Papier fand viel Beachtung und soll erheblichen Einfluss auf prominente Mitglieder der Bundesregierung ausgeübt haben,[14] während es von Vertretern der Friedensbewegung heftig kritisiert wurde.[15][16][17] Zuletzt hat Volker Perthes bei der Vorstellung des neuen „Weißbuches“ durch Bundesverteidigungsministerin von der Leyen betont, Deutschland sei „eine verantwortliche mittlere Macht, die mit anderen zusammen die europäische und globale Ordnung wahren und vermitteln“ müsse.[18]
Siehe auch: Liste der Mitwirkenden am Projekt Neue Macht – Neue Verantwortung
[Stiftung Wissenschaft und Politik, Projekt „Neue Macht – Neue Verantwortung“, Wikipedia, abgerufen am 18.06.2019]==========
Ich formuliere mal etwas flapsig: Die polititsche Elite Deutschlands scheint mir seit etwa dem Beginn der Ukraine-Krise recht Adrenalin-geschwängert. »Eine stärkere sicherheitspolitische Handlungsbereitschaft?« (Obiger Wikipedia-Artikel) Was soll das? Da tut der nachdenkliche Artikel gut, aus dem folgender Absatz stammt:
Die Proliferation des Verantwortungsbegriffs im Kontext der deutschen Außenpolitik lässt aufhorchen, sind doch klassische Kategorien dieses Diskurses eher Interessen und deren Durchsetzung oder Werte und deren Erhalt. Auffällig ist zudem, dass der neue Verantwortungsbegriff merkwürdig inhaltsleer bleibt, weshalb es gerechtfertigt erscheint, ihn als „Nebelkerze“ zu bezeichnen, wie es einer der Review-Kommentatoren tat. Arvid Bell (2014) wies zu Recht darauf hin, dass Verantwortung je nach Kontext „von mehr Engagement zur friedlichen Lösung internationaler Konflikte über mehr Einsatz für ein vereintes Europa bis hin zu mehr Bereitschaft zu Militäreinsätzen“ nahezu alles bedeuten könne. Der Begriff der Verantwortung suggeriert damit Eindeutigkeit, wo es eigentlich kontrovers zugehen sollte. Was also bleibt, wenn der Nebel sich lichtet?
[The Responsibility to be Responsible – Über Außenpolitik und Verantwortung, Hanna Pfeifer, Kilian Spandler, Wissenschaft & Frieden 2014-4: Soldat sein, Seite 36–39 – Hervorhebungen von mir]
siehe auch:
- Frieden ohne Primat? Deutsche Außenpolitik zwischen Sicherheits- und Verantwortungsdiskurs (Corinna Hauswedel, Forschungsstätte der evanglischen Studiengemeinschaft, Vortrag gehalten auf dem Pax Christi Kongress 2015: Gerechten Frieden weiterdenken, Rastatt, 26.-28. Juni 2015)
- Ukraine-Konflikt und geopolitische Eigentore (Post, 23.11.2014)
- Der Ukraine-Konflikt – Aktuelles, Teil 1, bis Juni 2014 (Post, 30.06.2014)
- »Wir sind ein bisschen durchgedreht« (Post, 05.09.2011)
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