Donnerstag, 25. Juli 2019

Demokratie 3.0 – Die Rechtsstaats-Fassade

Kriegseinsätze und Eingriffe in die Meinungsfreiheit höhlen das deutsche Grundgesetz immer weiter aus.

Am 1. August begeht die Schweiz ihren Nationalfeiertag. Sie gedenkt damit des im August 1291 abgeschlossenen Bundesbriefes. Im übertragenen Sinne könnte der 1. August ein Gedenktag für alle Staaten und Völker sein; denn er war ein Signal der Forderung nach Recht statt Macht, gegen Willkür und Entrechtung. Seit einigen Jahren beobachten wir in vielen Staaten eine Abkehr von diesem grundlegenden zivilisatorischen Fortschritt — auch in einem Staat wie Deutschland, der von seiner Verfassung her ein Rechtsstaat ist. Die dadurch entstandenen Schäden sind schon jetzt erheblich — nicht zuletzt im Gemüt der Menschen.

Artikel 20, Absatz 3 des Grundgesetzes hat folgenden Wortlaut:

„Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“
Das ist das in der deutschen Verfassung festgeschriebene und nach Artikel 79, Absatz 3 nicht verhandelbare Rechtsstaatsprinzip.

Die deutsche Verfassungswirklichkeit hat sich davon jedoch in den vergangenen Jahren in zentralen Politikbereichen deutlich entfernt. Viele Stimmen haben immer wieder darauf aufmerksam gemacht, insbesondere mit Blick auf die Kriegseinsätze der deutschen Bundeswehr im Ausland und derzeit auch zunehmend mit Blick auf die Grundsätze der Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit nach Artikel 5 des Grundgesetzes.

Keine „Verschwörungstheorien“
Dass es sich hierbei nicht um „Verschwörungstheorien“ und „Verschwörungstheoretiker“ handelt, zeigt ein Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 22. November 2018, auf den der Verfasser dieser Zeilen vor ein paar Tagen aufmerksam gemacht wurde. Autor des Artikels war Dr. Dieter Weingärtner, von 2002 bis Ende September 2018 Leiter der Rechtsabteilung im deutschen Bundesministerium der Verteidigung. Der Artikel hat den Titel „Zur Verteidigung?“, und schon im Vorspann heißt es: „Wie sich die Bundesregierung bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr das Grundgesetz zurechtbiegt.“

„Die deutsche Sicherheitspolitik tendiert (…) dazu, die Verfassungslage zu ignorieren“.

Auch wenn der Autor selbst mit einer gewagten Gedankenakrobatik — und vielleicht seinen Dienstherren verpflichtet — am Ende seines Textes für „eine Neuinterpretation der Verfassung“ plädierte und Auslandseinsätzen der Bundeswehr politisch positiv gegenüberstand, war seine juristische Bestandsaufnahme doch recht eindeutig: „Die deutsche Sicherheitspolitik tendiert (…) dazu, die Verfassungslage zu ignorieren.“ „Dass das Grundgesetz nach seinem Wortlaut und nach seiner Auslegung durch Bundesregierung und Bundestag keine Basis für bilaterale bewaffnete Einsätze der Bundewehr oder für eine Beteiligung an einer ‘Koalition der Willigen‘ bietet, wird (…) ausgeblendet.“ „Notfalls biegt die Bundesregierung die verfassungsrechtlichen Grundlagen eines Einsatzes zurecht — und erhält auch noch die Zustimmung des Bundestages.“

Dass diese Verfassungsbrüche keine rechtlichen und politischen Kleinigkeiten sind, wird ebenfalls herausgestellt:

„Die Verfassung ist die rechtliche Grundordnung eines Gemeinwesens. Sie trifft die grundlegenden Entscheidungen der Staatsordnung. Dazu gehört die Ausübung staatlicher Hoheit, insbesondere in ihrer stärksten Form, der militärischen Gewalt.“

mehr:
- Die Rechtsstaats-Fassade (Karl-Jürgen Müller, Rubikon, 25.07.2019)

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Der Parlamentsvorbehalt bedingt, dass alle Entscheidungen, die von substanziellem Gewicht für das Gemeinwesen sind, eine direkte parlamentarische Zustimmung brauchen und nicht der Entscheidungsmacht anderer Organe der Staatsgewalt anvertraut werden dürfen. Beispiele für den Parlamentsvorbehalt sind etwa:
  • Personalentscheidungen: die zentralen Organe der Staatsgewalt (Bundeskanzler, -präsident, -richter) sind durch das Parlament (bzw. erweitert als Bundesversammlung) selbst zu wählen; andere Personalentscheidungen bedürfen einer lückenlosen demokratischen Legitimierungskette, die beim Parlament endet.
[Parlamentsvorbehalt, Wikipedia, abgerufen am 26.07.2019]
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siehe auch:
Abgeordnete lesen TTIP-Verträge – unter Aufsicht (Christian Kerl, Braunschweiger Zeitung, 28.01.2016)
TTIP-Leseraum: Bitte sagen Sie jetzt nichts! (Kommentar, Petra Pinzler, ZON, 28.01.2016)
- Streit über Freihandelsabkommen – USA verweigern deutschen Abgeordneten Zugang zu TTIP-Dokumenten (Gerhard Trauvetter, SPON, 11.09.2015)
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