Freitag, 12. Dezember 2014

Vor 40 Jahren: Sartre in Stammheim

Zeitgeschichte Vor 40 Jahren trifft der Philosoph Jean-Paul Sartre in der JVA Stuttgart-Stammheim den RAF-Gefangenen Andreas Baader. Beide reden gut eine Stunde lang aneinander vorbei

Der 4. Dezember 1974 war ein milder, strahlender Wintertag. Pünktlich gegen halb zehn Uhr morgens setzte auf der Landebahn des Stuttgarter Flughafens eine aus Paris kommende Caravelle der Air France auf. Als die Maschine ihre Parkposition erreicht hatte, spielten sich tumultartige Szenen ab. An der Gangway drängelten Journalisten und Fotografen, die darauf warteten, dass ein prominenter Passagier auftauchte. Jean-Paul Sartre, Philosoph von Weltrang und gesellschaftskritischer Vordenker, hatte sich auf den Weg in die baden-württembergische Landeshauptstadt gemacht, um Andreas Baader zu besuchen, den in der JVA Stuttgart-Stammheim einsitzenden Mitbegründer der Roten Armee Fraktion (RAF).

mehr:
- 1974: Besuch des alten Herrn (Günter Riederer, der Freitag, 10.12.2014)

siehe auch:

- Der Terrorist, der Sartre chauffierte (Hans Schueler, ZEIT, 09.01.1976)
Der Kidnapper von Wien brachte den Philosophen zum Treffen mit Baader

Stammheim-Urteile Beispiellose Blamage für den Rechtsstaat (Michael Sontheimer, SPIEGEL, 17.08.2007)
Zwei der fünf Angeklagten waren tot, als das Urteil fiel - drei bekamen lebenslang: Am 28. April 1977 endete der "Stammheim-Prozess" in Stuttgart gegen die Führung der RAF. Er geriet zu einem Desaster auf der ganzen Linie.
Besuch in Stammheim: Der deutsche Terroristen Hans-Joachim Klein (v.) mit dem französischen Philosophen Jean Paul Sartre (l.) und dem Rechtsanwalt Klaus Croissant während einer Autofahrt auf dem Weg vom Stuttgarter Flughafen zum Gefängnis Stammheim im April 1974. Dort wollte Sartre den inhaftierten Terroristen Andreas Baader treffen. Im Jahr darauf war Klein an dem Anschlag und der Geiselnahme in der Wiener OPEC-Zentrale unter der Führung des Terroristen "Carlos" beteiligt. 
(SPIEGEL, 17.08.2007, beeindruckende Foto-Strecke!)

- Erich Fromm – Die Kunst der Abfuhr (Jan Feddersen, taz, 10.09.2007)
Anders als Jean-Paul Sartre und andere Intellektuelle wollte er sich nicht vor den Karren der RAF spannen lassen: Der Psychoanalytiker Erich Fromm.
Mein Leben als Terrorist: Hans-Joachim Klein (Dietrich Kulbrodt, Filmzentrale, 11/2007)
Man nimmt Klein ab, dass er glaubt, was er sagt. Er hat eine schwere Jugend gehabt, so könnte es auch im Plädoyer eines Verteidigers heißen. Sein Vater war ein brutaler Kriminalbeamter, der ihn prügelte. Noch mit 16 musste er abends um 8 ins Bett, mit 20 riss ihm der Vater die Kette vom Hals, ein Geschenk der Freundin. Schluss, aus. Jochen tauschte die Prügelstätte mit WGs in Frankfurt am Main, dort wurden Bullen gehasst und darüber hinaus das imperialistische System. Die RAF und dann die Roten Zellen wurden seine Heimat.

Sartre in Stammheim (Wolfgang Kraushaar, Lettre International 80, Frühjahr 2008)
Der Philosoph beim Staatsfeind Nummer eins - Ein Besuch und seine Folgen 

Eine denkwürdige Aufnahme. Zu sehen sind drei Insassen eines Pkws: Auf dem Beifahrersitz mit Jean-Paul Sartre der berühmteste Philosoph seiner Zeit; auf dem Rücksitz dahinter ein Rechtsanwalt, der RAF-Verteidiger Klaus Croissant, über dessen Kanzlei behauptet wurde, sie sei die größte Personalrekrutierungsstelle gewesen, über die die terroristische Gruppe jemals verfügt habe; und am Steuer mit Hans-Joachim Klein ein damals völlig unbekannter junger Mann, dessen Bild ein Jahr später um die Welt ging, als er an der Seite des international gesuchten Terroristen Carlos am blutigen Überfall auf das OPEC-Treffen in Wien beteiligt war. Von der Kamera nicht eingefangen wurde jene Person, die für das Zustandekommen dieses denkwürdigen Trios vielleicht unverzichtbar gewesen ist: Daniel Cohn-Bendit, Ikone des Pariser Mai und heute Europa-Abgeordneter der Grünen in Straßburg. Die Aufnahme ist vor 34 Jahren in Stuttgart gemacht worden, am 4. Dezember 1974..

Sartres Einsicht in die Gefährdung der Praxis – Entfremdung und Intionalität (Emil Kaufmann, Macht und Arbeit: Jean-Paul Sartre und die europäische Neuzeit, S. 110, GoogleBooks)
Mit der Selbsttägigkeit ist also keine Antwort gegeben sondern ein Problem gestellt. Ein Problem, das – wie wir gesehen haben – auf engste mit jenem der Entfremdung verknüpft ist. Vergegenwärtigen wir deshalb noch einmal in großen Zügen, den Weg, den wir bisher gegangen sind.

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