Interview 100 Jahre Frauenwahlrecht taugen nicht zum Ausruhen, findet die Historikerin Hedwig Richter
Am 19. Januar 1919 durften Frauen in Deutschland das erste Mal wählen. Mehr als ein Jahrhundert lang hatten sie dafür gekämpft. Im europäischen Vergleich waren die deutschen Frauen zeitig wahlberechtigt. Das Schlusslicht bildete 1971 die Schweiz. Hedwig Richter forscht seit Jahren zur Geschichte des Frauenwahlrechts. Sie weiß, warum der Kampf so mühsam war. Und sie rät heutigen Feministinnen, wütende Männer nicht in erster Linie als Bedrohung, sondern als Beweis für ihre Wirkung zu betrachten.
der Freitag: Frau Richter, bevor wir uns ins Historische stürzen, eine Lockerungsübung: Werden Sie 2019 von Ihrem Wahlrecht Gebrauch machen?
Hedwig Richter: Natürlich! Für mich ist der Wahltag ein Fest. Ich bin allerdings durch meine Wahlforschung darauf gekommen, dass es okay ist, wenn es Leute gibt, denen es nicht so geht.
Unter anderem steht dieses Jahr die Europawahl an. Der Blick auf Brüssel irritiert aber: Zwar können Frauen seit 100 Jahren wählen, trotzdem sind sie im EU- Parlament unterrepräsentiert. Das Verhältnis ist ähnlich wie im Bundestag: Ein Drittel Frauen, zwei Drittel Männer.
Es gibt viele Faktoren, die das erklären können. Einer davon ist, dass die Diskriminierung von Frauen eine sozial und mental tief verwurzelte Matrix ist, die – ganz grob gesprochen – vor etwa 100 Jahren erstmals richtig aufgebrochen wurde. Tatsächlich ist die Zeit um 1900 entscheidend: Frauen betraten die politische Bühne und wurden erstmals auch wahrgenommen. Historisch gesehen ist der Feminismus als wirksames Massenphänomen also eine relativ junge Bewegung. Und ich würde sagen, wir haben schon viel erreicht. Frauen haben heute so viele Rechte wie nie zuvor. Ich denke, dass unsere demokratischen Gesellschaften in der Lage sind, die vielen Defizite, die es bei der Gleichstellung der Geschlechter noch gibt, wirksam anzugehen.
Nun sagen Sie, der Kampf um das Frauenwahlrecht sei eine historisch gesehen junge Bewegung. Der fing ja aber nicht erst im Jahr 1919 an.
Es gibt bedeutende Vorläuferinnen. Eine davon ist Olympe de Gouges. Sie hat schon 1791 die „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ verfasst. Die Menschenrechte, die in der französischen Revolution proklamiert wurden, waren ganz offensichtlich Männerrechte. De Gouges meinte: Wir brauchen auch Frauenrechte. Das war eine mutige, aber einsame Stimme. Die Entrechtung der Frau war so selbstverständlich, dass es selbst für die Demokraten und die französischen Revolutionäre klar war, dass die Frau nicht in die universelle Gleichheit einbezogen werden kann.
Frauenrechtlerinnen kämpften gegen große Widerstände.
Ja! Sie griffen eines der grundlegendsten Ordnungselemente überhaupt an: die Geschlechterordnung, in der die Frauen als minderwertig galten. Die frühen Feministinnen wie die deutsche Louise Otto-Peters blieben absolut minoritär. Falls sie überhaupt wahrgenommen wurden, machte man sich häufig über sie lustig.
Diese Erfahrung machen viele Feministinnen heute noch.
Bei den Diskussionen, das Wahlalter zu senken, gab es ähnliche Reaktionen: Jetzt sollen auch noch Kinder wählen? Da könnten wir ja gleich die Frauen zulassen! Das generelle Bewusstsein war: Es ist absurd, Frauen wählen zu lassen.
mehr:
- „Wir brauchen die Männer“ (Konstantin Nowotny, der Freitag, 19.01.2019)
siehe auch:
- Heute vor 100 Jahren – 19.01.1919… Wahlen zur deutschen Nationalversammlung (Post, 19.01.2019)
- Die größten US-Rüstungskonzerne werden mehrheitlich von Frauen geführt (Post, 03.01.2019)
- Fake-Werte, Emanzipation und harte Bandagen: Folter-Chefin soll CIA-Chefin werden (Post, 12.05.2018)
- „Männer wissen immer weniger, wer sie sind“ (Post, 03.03.2016)
- Unsere Welt besteht aus Geschichten (Post, 17.12.2015)
- Aufklärung : Bin das wirklich ich? (Post, 12.12.2015)
- Die Beschreibung der Welt: Postmoderne trifft auf Mainstream (Post, 11.12.2015)
- Modernisierung des Islam – Religionen zivilisieren sich nicht von selbst (Post, 22.08.2015)
- Sport-Meldung für Alice Schwarzer: Belgische Fußballer schießen auf nackte Frauen-Hintern (Post, 16.05.2015)
- Anerkennen, daß man selber der Fall ist! (Post, 15.05.2015)
- 1930-44: Der »Bund Deutscher Mädel« (Post, 27.10.2014)
- Deutschland hat Merkel verdient oder Wahlkampf im Pädophilie-Gulli (Post, 19.09.2013)
- »Natürlich nehmen wir den Mann mit.« (Post, 22.04.2012)
- Gestern vor 25 Jahren: Simone de Beauvoir stirbt in Paris (Post, 15.04.2011)
- Emanzipation (Post, 26.08.2008)
- Wie wir wurden, was wir sind (Post, 03.07.2008)
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